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Heute habe ich, heute bin ich (nicht)

Heute habe ich, heute bin ich (nicht)

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Reinhard Lechner liest Sabine Grubers Journalgedichte
Am besten lebe ich ausgedacht

Cover Sabine Gruber Am besten lebe ich ausgedacht

Mit ihrem neuen Band hat die Autorin Journalgedichte vorgelegt, eine Lyrikgattung, in der die Tagebucheinträge eines lyrischen Ichs aufgearbeitet werden, weiterarbeiten zwischen Erfahrungen, Erinnerungen, Vorahnungen. Die reduzierte Sprache fällt auf, schnörkellose Eindrücke einer ‚Biografie‘, gegossen in Formbewusstsein. Bereits der Titel verkündet ein poetisches Spiel mit der wirklichen bzw. fiktiven Existenz: Das Ankündigen von Journalgedichten, es lässt uns tagebuchartige Inhalte erwarten – heute habe ich, heute bin ich. Doch die Autorin tituliert im Gegensatz dazu mit „Am besten lebe ich ausgedacht“ eben ein fiktives Leben und erinnert uns damit daran, dass das Ich in diesen Journalgedichten keinesfalls mit dem der Autorin zusammenfallen muss.

Dieses weibliche lyrische Ich, es kämpft zeitlebens darum, zu bleiben, in der Liebe, aber bzw. und auch bei sich, beim Schreiben. Und es fragt sich mit Nestroy „bin ich wie er, / kompasslos im Kummermeer?“. Und weiter heißt es:

Es sind oft die Falschen,
Denen wir uns schenken, Spötter, Spieler,
Spießer, für die wir uns verrenken. Im
Dunkel dahinter wird jetzt ein Fakefenster
Hell, die anderen Windaugen bleiben blind.
Ich verschwinde, ängstlich, schnell. Wohin
Zurück? In welches Stück?

Was das Schreiben angeht, hält das lyrische Ich es mit „Schreiben, um zu leben, nicht leben, um Sätze / Zu fangen. Sie wachsen aus dem Wörteratem“. Die Biobibliografie der in Meran geborenen Autorin jedenfalls ist abwechslungsreich, Gruber ist mit Romanen in Erscheinung getreten („Über Nacht“, 2007, „Stillbach oder die Sehnsucht“, 2011, „Daldossi oder Das Leben des Augenblicks“, 2016), mit Theaterstücken und Essays, ihr letzter Gedichtband erschien 2018 („Am Abgrund und im Himmel zuhause“).

Einträge der Wimpernschläge und Jahre


Jeden Gedichteintrag verzeichnet die Autorin mit Monat und mit Ort, das Journal beginnt „Im März. Leopoldstadt, Wien“ und endet mit „Dritter September. Millstätter See, Kärnten“. Dazwischen liegt aber nicht der kalendarische Verlauf einer warmen Zeit im Jahr, dem die Autorin folgt. Vielmehr er-findet sie das lyrische Ich anachronistisch in ihren Gedichten: In einem haben wir erst ausklingenden Winter („Im Februar, Wien“), im nächsten ist dann, ohne die warmen Monate dazwischen, schon wieder der Herbst zurück („Letzter Oktober. Leopoldstadt, Wien“). Dieses Spiel mit dem Ausbleiben bzw. Überspringen von Jahres- und Lebenszeiten, dieser Anachronismus an Einträgen im Journal, er ist unverstellt, die Brüche sind bei der Lektüre durchaus reizvoll – denn ist es nicht so, dass wir über gewisse Zeiten nichts zu sagen und aufzuschreiben haben, und ist es nicht so, dass wir, im ins Leben übertragenen Sinn, nach einem Herbst unerwartet einen zweiten Sommer erleben können? Eine hier subversiv anklingende Thematik, ob mit dem anachronistischen Dichten intendiert oder nicht, mag auch die Klimaveränderung sein, die uns Jahreszeiten länger andauernd oder durcheinandergewürfelt wahrnehmen lässt. Andererseits hätte die Autorin das chronische Wechselspiel der Jahreszeiten mit seinen Besonderheiten gerne durchhalten können. Vielleicht hätte man es sich gewünscht, da sie die Form ihrer Gedichte so beeindruckend durchhält.

Themen und Form


Jemand ist gegangen, das ist aus diesen Gedichten durchgängig spürbar. Sie sind Aufzeichnungen des Abschiednehmens und des Erinnerns, die über große und kleinste äußere wie innere Orte und Gegenstände gelingen. Auf ihr Besuchen und auf ihr Festschreiben ist Verlass, mehr als auf den alternden menschlichen Körper:

Meine Lebensmänner
Sind alle tot, der Körper ist längst
Nicht mehr im Lot. Ich weiß, er
Will mein Wort. Meine Zunge
Ist klüger

Das lyrische Ich ist viel unterwegs auf seiner Spurensuche, in Wien und Österreich, in Italien und in Deutschland. Mit dem Reisen werden die Erinnerungen eingeholt, diese wieder nutzt Sabine Gruber wie Segel, gelangt vorwärts in ihren Rückenwinden, schreibt sie so weiter, etwa in „Im November. Friedrichstadt, Düsseldorf“:

See Also

Fand auch ohne deine Hilfe aus den
Gängen, den Sackgassen und geschlossenen
Schleifen. Bin dem Ungeheuer endlich
Entkommen, dem Düsseldrachen,
(…)
Und überlebe, lebe zwischen den Städten
Fliege in meiner Sprache überall hin.

Thematisch kreisen die Journalgedichte um die Topoi des Alterns, des Abschiednehmens und des Verbleichens der (großen) Liebe. Als motivische Gegengewichte setzt Gruber ihnen immer wieder das vertraute Aufgehobensein im natürlichen Wandel von Frühling, Sommer, Herbst und Winter entgegen, und das Schreiben als Lebensform, mit der manches aus dem Strom menschlicher Vergänglichkeit geborgen und verwahrt werden kann:

Schreiben
Um zu lieben, wenn kein Sprechen mehr hilft.
Kein Schlaf. Wenn ich erblinde, weil ich dich
Und mich nicht mehr finde.

Eine reduziertes, gemäß dem Journalgedicht schnörkelloses poetisches Sprechen findet in diesen Gedichten statt. Orte, Gegenstände oder Empfindungen werden nie bloß thematisch umkreist oder gefühlsgroß angebetet, um Lebensweisheiten zu produzieren. Gruber notiert sie als formal disziplinierte Einträge in das Journal, das biografische Jetzt und Hier einer Frau in ihrer zweiten Lebenshälfte wird offengelegt mit wenigen Metaphern und wenig Rätselhaftem – und gerade auch aus der Form entfaltet sich die Wucht dieses Dichtens. Die oben skizzierten Themen wurden von der Dichterin in gesamt 44 Gedichte gebracht, jedes Gedicht besteht aus 20 Versen, wie Faltschnitte des Erlebten und Erinnerten liegen sie uns Lesenden damit vor.
Die Autorin verwendet gerne den Binnenreim, die gereimten Wortpaare versteckt sie mittels der Enjambements, zudem funktionieren die Reime auch, weil sie uns immer wieder wohldosiert als unreine Reime begegnen:

Kinder kauen
Kaugummi, kicken im Trikot alter Idole
Die Großväter träumten von Aufstieg
Vom Leben in der Metropole, von
Erkratzten Gewinnen, vom Obenauf
Schwimmen. Die Mütter gehen längst
Nicht mehr zum Hafen, legen sich wie
Die Königin der Straßen lieber schlafen. 

In manchen Gedichten mögen die Kontraste zwischen dem feinstofflichen Sprachduktus und bedichteten Zeitphänomenen etwas abheben. Wenn die Autorin mit entsprechenden Nomen Phänomene der Jetztzeit ins Gedicht bringt, wirkt das dann eventuell zu konterkarierend:

Noch einmal bleibt
Vom Sehnen mehr als nur die Flucht,
Vom Traum der lose Traum. Noch einmal
Sag ich, was sich keine traut: Ich lebe
In der Cloud.

Gesamt aber beziehen die Gedichte aus „Am besten lebe ich ausgedacht“ ihre Stärke aus einer realistischen biografischen Nähe der Autorin zum lyrischen Ich. So dokumentieren sie das Voranschreiten einer (Frauen-) Biografie, dabei ruht ihr poetischer Schwerpunkt auf ihrer durchgängigen Form. Und auf diesem Grund bewahren sie die Erinnerung an jene, die gehen mussten:

Ich kann dich in der Tiefe
Des Grunds, in jeder Welle wieder hören,
Sehen.

Sabine Gruber: Am besten lebe ich ausgedacht. Journalgedichte. Haymon, Innsbruck-Wien, 2022. 48 Seiten. Euro 18,–

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