Eine nur deutsche Debatte?
Udo Kawasser
Ende Jänner wurde bekanntgegeben, dass Judith Zander für ihren im Juni 2022 bei dtv erschienenen Gedichtband im ländchen sommer im winter zur see den diesjährigen Peter-Huchel-Preis für deutschsprachige Lyrik erhält, nachdem im Vorjahr Dinçer Güçyeter und davor so illustre Dichter*innen wie Friederike Mayröcker, Thomas Kling und Elke Erb damit ausgezeichnet worden waren. Das Preisgeld der vom SWR und dem Land Baden-Württemberg zum 40. Mal verliehenen Auszeichnung wurde zum Jubiläum von 10.000 Euro auf 15.000 Euro aufgestockt, was wohl längst überfällig war.
So weit, so gut. Oder eben nicht gut. Denn auf der Facebook-Seite des SWR brach in der Kommentarfunktion eine Debatte – wenn man die Postings so nennen will – mit bis dato mehr als 1.750 Einträgen los, bei der die „Preiswürdigkeit“ der Autorin in Abrede gestellt und ihre Gedichte mit Bezeichnungen wie „sinnfreies Gebrabbel“, „Quatsch“ oder „unverständlicher Wirrwarr“ belegt wurden. Konkreter Anlass war das schon im Titel zweideutige Gedicht grundlegende, das auf www.lyrikline.org nachzuhören ist und vom SWR im Kommentar verlinkt worden war und so anhebt:
grundlegende dennoch gaben wir eine parole aus wie wiesenschaumkraut waldlehrpfad hießen wir uns einander in solchen zeiten vertraute und solchen leugneten wir die langue ab die legende diesem wald- und wiesenlexikon keine karte ward den grundbucheintragungen beigegeben in der tat aber nahmen wir welche vor und zugegeben verklebten wir zwittrige blüten mit kuckucksspucke (…)
Im Supermarkt der Rezeptionskultur
Eine Pointe der Debatte ist, dass dieser Text gar nicht aus dem ausgezeichneten Buch stammt, sondern aus dem Gedichtband oder tau von 2011. Zugegeben, kein Text der sich auf den ersten Blick erschließt, sondern der mit parole und langue in der ersten von zwei Strophen linguistische Fachtermini einbaut, die manche wohl erst googeln müssen. Obwohl Shitstorms auf Facebook nichts Ungewöhnliches sind, ist es interessant zu beobachten, welchen Widerwillen bzw. welche Abwehrreaktionen die Konfrontation mit einem Text auslöst, der einer sinnerschließenden Lektüre Widerstände entgegensetzt. Dabei sind zwei Dinge verwunderlich: Erstens das unreflektierte Ansinnen, dass literarische Texte unmittelbar zugänglich sein müssen, wie etwa die zum freien Konsum ausgelegten Waren im Supermarktregal, und zweitens, dass sich anscheinend jeder User, jede Userin bestens gerüstet fühlt, sich ein Urteil über die Qualität eines Gedichts bzw. einer Autorin anzumaßen, so als hätte nicht jede Praxis oder jedes Spiel, um mit Wittgenstein zu sprechen, seine Regeln. Eine ernsthafte Auseinandersetzung und wohl auch Kennerschaft sollte jedem Urteil vorangehen. Oder wie ernst würden wir eine Person nehmen, die zum ersten Mal ein Fußballspiel sieht, von den Spielregeln keine Ahnung hat und nach fünf Minuten Spielzeit einem Nationalspieler jedes Talent abspricht?
Das deutsche Feuilleton reagiert
Andreas Platthaus verweist in seiner anlassbezogenen FAZ-Glosse Lyrikliederlich zu Recht darauf, dass Lyrik, obwohl sie sich einer allen zugänglichen Sprache bedient, voraussetzungsreicher als andere literarische Gattungen ist, und folgert: „Gedichte sind nun einmal nicht am üblichen Sprachgebrauch zu messen, sonst bräuchte man sie ja gar nicht.“ Eine detailliertere Verteidigung, ja „Apologie“ der zeitgenössischen Lyrik unternimmt der Literaturwissenschaftler Leisz Shernhart auf seinem taz-blog poetik des postfaktischen unter dem Titel „sehr wohl Lyrik! Zum Shitstorm gegen Judith Zander“. Dabei entwickelt er folgende Erklärung für die oft bemängelte „Schwierigkeit“ zeitgenössischer Gedichte: „Durch die Verfremdung soll eine Erschwerung und dadurch Verlängerung der Wahrnehmung bewirkt werden, was gewissermaßen den Rezeptionsvorgang intensiviert und unter Umständen, je nach Abstraktionsgrad, einen Assoziationsprozess initiiert, wobei der Text als Projektionsfläche dienen kann. Ein so geschaffenes Sprachartefakt ist zumeist situationsabstrakt, selbstreferentiell und häufig auch mehrdeutig.“
Allerdings hat diese Erklärung den Nachteil, dass sie mit dem Argument der Rezeptionserschwerung im Schema der Verrätselung gefangen bleibt, also in der Denke, dass der Autor oder die Autorin den „eigentlichen“ Sinn des Gedichts zu verrätseln sucht, die Rezipient*innen also dazu aufgefordert sind, diesen Sinn aus dem „Wirrwarr“ der Worte wieder herauszuschälen. Dem ist entgegenzuhalten, dass das Wie des poetischen Sprechens bedeutungskonstitutiv ist, dass also die Art und Weise, wie gesprochen, wie Bedeutung hergestellt, unterlaufen oder sogar verhindert wird, für den Text und sein Verständnis grundlegend sind.
Grundlegendes zu „grundlegende“
Eine so informierte Haltung würde sich beim angesprochenen Text von Judith Zander vielleicht gleich beim zweideutigen Titel „grundlegende“ aufhalten, der sowohl als Adjektiv als auch als Nomen gelesen werden kann und somit das Gemeinte in der Schwebe hält. Man müsste das Wort (das Teil der „langue“, also des Regelsystems Sprache oder, noch einfacher gesagt, des Lexikons ist) erst im konkreten Sprachzusammenhang (also der „parole“) sehen, um über seine Bedeutung entscheiden zu können. Die „parole“ wäre in diesem Fall der Rest des Gedichts, also die beiden Strophen, aus denen es besteht. Tatsächlich stößt man dort auf Wörter wie „legende“, „karte“ oder „grundbucheintragungen“, und man könnte sich fragen, wie diese mit dem Titel zusammenhängen, und sähe, dass hier zuerst die nominale Bedeutung von „legende“, also die Bedeutung von Zeichen auf einer Landkarte gestärkt wird, ohne dass die zweite adjektivische Bedeutung, nämlich dass es im Text um „Grundlegendes“ gehen könnte, vom Tisch wäre.
Genau dieses In-der-Schwebe-Halten von Bedeutungen, dieses Zusammenklingenlassen der Laut- und Bedeutungsebenen durch die Art des Sprechens, die selbstverständlich den Rezeptionsvorgang verlängern und intensivieren können, ist kein äußerlich hinzugefügtes Verständnishindernis, sondern eben „grundlegend“ für dieses Gedicht und für Dichtung ganz generell. Was folgt daraus jenseits der Philologie?
Wozu brauchen wir Gedichte?
Eine moderne Gesellschaft, die sich Individualität auf die Fahne geheftet hat, müsste sich darüber im Klaren sein, dass die Anerkennung der eigenen Individualität keine Einbahnstraße ist. Dass also jede/r Einzelne aufgerufen ist, auch die Individualität der Anderen zu respektieren. Und ich setze hier bewusst den Umgang mit einem sprachlichen Gebilde, wie es ein Gedicht ist, mit dem Umgang mit einem Menschen gleich, geht es doch in beidem um die Begegnung mit dem Anderen oder Fremden. Beide verlangen von mir, sofern ich sie ernst nehme, die Fähigkeit, mich auf sie einlassen zu können. In der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Gedichten lässt sich nun zweierlei lernen, um der zunehmenden Verrohung, Spaltung und Atomisierung etwas entgegenzusetzen: Frustrations- und Ambiguitätstoleranz.
Nur weil ich etwas nicht sofort verstehe, muss es nicht wert- oder nutzlos sein. Spontane Abwertung von allem, was einem nicht sofort einleuchtet, statt Urteilsaufschub und Reflexion, ist zum Schaden aller gängiges Verhalten im zwischenmenschlichen Umgang geworden. Das kommt nicht von ungefähr. Im Staubschweif der rasanten Ausbreitung des Konsumkapitalismus hat sich eine kopernikanische Wende in unserem Verhältnis zur Welt vollzogen. Nämlich die Entwicklung eines unreflektierten Anspruchsdenkens, das die vom Kleinkindalter an eingeübte Konsumhaltung auf jede Interaktion mit der Welt und damit auch anderen Menschen überträgt. Die Welt, die anderen haben zu liefern, das Konsum-Ich lehnt sich zurück und urteilt als Gourmand. Der Gedanke, dass es eine Bringschuld geben könnte, dass man einer Sache oder einem Menschen gerecht werden müsste, indem man die Voraussetzungen für einen angemessenen Umgang bei sich selbst schafft, ist längst nicht mehr konsensfähig. Dabei wäre es doch naheliegend zu denken, dass sich Gedichte in dieser gedankenlosen, auf immediate satisfaction gerichteten Zeit vielleicht bewusst dem schnellen Konsum verweigern, also Sand im Getriebe bedeuten wollen, weil sie auf anderes zielen und in diesem Zielen auch anders sein müssen.
Ebenso schwer tun wir uns, Ambiguitäten auszuhalten, also Dinge, die sich nicht einfach entscheiden lassen, weil sie mit gegenläufigen Strebungen und Gefühlen verknüpft sind, die sich nicht einfach in die eine oder andere Richtung auflösen lassen. Wer ist nicht dafür, dass Menschen in Not, die zu uns kommen, geholfen werden muss, spürt aber vielleicht gleichzeitig ein Unbehagen, was eine massive Zuwanderung für das Zusammenleben oder den Wohlstand im Land bedeuten könnte. Unsere Welt lässt sich nicht auf einen Nenner bringen, sei er Pro oder Contra, sei er Hetero, Bi, Homo oder Non-binary. Wir müssen also lernen, mit Widersprüchen und Ambiguitäten umzugehen. Gedichte lehren: Eindeutigkeit ist die Ausnahme, Vieldeutigkeit und Ambiguität in einer Welt gesteigerter Individualität und globaler Bewegungen das zu Erwartende. Beide müssen nicht unsere Integrität in Frage stellen, sondern könnten sie umgekehrt sogar stärken, wenn wir sie zu integrieren verstehen würden.
In diesem Sinne ist es auch gut, wenn wir miteinander über Lyrik streiten, solange wir die zivilisierte Formen des Streits pflegen und bereit sind, die Voraussetzungen zu hinterfragen, mit denen wir ihn führen. Der Preisträgerin Judith Zander sei von hier aus jedenfalls herzlich zu diesem Preis gratuliert. In der Debatte selbst kann man ihr nur ein dickes Fell wünschen.