Klaus Ebner liest den Gedichtband von Cvetka Lipuš Weggehen für Anfänger
Ein zweisprachiger Lyrikband: So gehört es sich, wenn die Gedichte ursprünglich in einer anderen Sprache geschrieben wurden. Die 1966 in Eisenkappel-Vellach/Železna Kapla geborene Cvetka Lipuš ist Kärntner Slowenin und schreibt ihre Lyrik in slowenischer Sprache. Sie hat einige Jahre in den USA verbracht; heute lebt sie in Salzburg und arbeitet als Schriftstellerin und Bibliothekarin. Ausgezeichnet wurde sie unter anderem mit dem Preis der Prešeren-Stiftung und dem Lyrikpreis des Landes Kärntens.
Die in „Weggehen für Anfänger“ gesammelten Gedichte erschienen im Original zwei Jahre vorher im slowenischen Verlag Beletrina: „Odhajanje za začetnike“. Der Salzburger Otto Müller Verlag brachte die Gedichte nun inklusive einer deutschen Übertragung von Klaus Detlef Olof und eines Vorworts von Drago Jančar heraus, hart gebunden und stilvoll gestaltet.
Cover © Otto Müller Verlag
Der Titel des Buches rührt an Erinnerungen, denn Weggehen hat meist auch etwas mit Verlassen oder Hinter-sich-Lassen zu tun. So regt sich in den Gedichten ein melancholischer Ton, der durch ungewöhnliche Bilder und Metaphern manchmal verfremdet wirkt. Mit leichter Ironie schrieb die Autorin in einem der Gedichte:
Auf den Porträts unserer Väter sammelt sich Staub. Im Theater der Zeit sitzen sie in der ersten Reihe, sie sehen uns auf die Finger.
Stets drückt das Weggehen Vergangenes aus, und die beschriebenen Szenerien legen nahe, dass Lipuš darin eine Menge Autobiografisches verarbeitet hat und auf die Reisen und Auslandsaufenthalte in ihrem Leben anspielt. Auf Slowenisch lauten die obigen Zeilen:
Na portretih naših očetov se nabira prah. V gledališču časa sedijo v prvi vrsti, nam gledajo pod prste.
Dazu zwei Beobachtungen: Erstens sind die slowenischen Verse immer kürzer als die deutschen; je länger eine Gedichtzeile, desto deutlicher fällt dieser Unterschied auf. Nur zum Teil ist dies dem Umstand zu danken, dass slawische Sprachen keine Artikel kennen. Zweitens habe ich den Eindruck, dass sich das slowenische Original etwas rhythmischer und melodischer liest, während der deutsche Text auf mich eine Spur unruhiger wirkt und sich somit eher einem Prosatext annähert. Wie oft bei Lyrik wird hier erkennbar, dass – sogar bei einer so präzisen und einfühlsamen Übersetzung, wie Klaus Detlef Olof sie vorgelegt hat –unterschiedliche Sprachen in vielen Situationen etwas anders „ticken“ und klingen.
Und warum spricht Cvetka Lipuš vom Weggehen „für Anfänger“? Weil jeder Abschied einerseits ein Anfang von etwas Neuem ist und andererseits – hier klingt wieder die Melancholie durch – kaum jemand in der Lage ist, sich an Abschiede zu gewöhnen, sie quasi stoisch anzunehmen und im Extremfall emotionslos damit umzugehen. In diesem Sinne sind wir alle Anfänger*innen, wenn es darum geht loszulassen: Vergangenes, Versäumtes, Verlorenes.
Zyklen
Neben einzelnen Gedichten finden sich Zyklen mit unterschiedlicher Länge. Jeder Zyklus trägt einen Gesamttitel, und die enthaltenen Texte sind nummeriert und stehen zueinander in engem inhaltlichem Zusammenhang.
An vielen Stellen blinzelt die Vergangenheit durch, die in Kärntens Natur erlebte Kindheit, aber auch der Alltag; vereinzelt und für mein Empfinden geradezu versteckt stehen Anspielungen auf die bewegte kärntnerslowenische Zeitgeschichte. Das „Weggehen“ erhält vielfältige Bedeutung. Vom Weggehen aus der Heimat ist die Rede und vom Verlassen bestimmter Orte, wie sie sich mit einem melancholischen Unterton bildhaft gleich am Beginn des Gedichtzyklus „Die Verlassenschaft“ zeigen:
Häuser mit dem Hintern auf der Steigung, mit den Beinen im Flachen, schauen mit verschränkten Armen auf die sich wiegenden Hüften des Feldes, den ärmlichen Zug der Wagen auf der schmalen Straße, ob wohl einer in den Hof einbiegt, die leeren Zimmer mit Schritten sättigt.
Dieser Zyklus besteht nur aus drei Gedichten, und ich glaube, Leser*innen sehen augenblicklich das vereinsamte Haus am Berghang vor sich, die nicht mehr gebrauchten Gerätschaften und verschlossene Fensterläden, all das eingebettet in die sie weiterhin umgebende Naturlandschaft. Wir kommen nicht umhin mitzufühlen und ein gewisses Bedauern zu empfinden. Am Schluss dieses Zyklus heißt es:
(…) Büstenhalter, Hosen, Unterwäsche, die gekauft wird, wenn der Gatte nicht mehr ist, in den Geruch von Waschpulver getaucht. Alles in Plastiksäcke gestopft, alles wartet auf die letzte Fahrt.
Bilder
Komplexe Bilder, wie sie sich in diesem Lyrikband häufen, erfordern ein Innehalten, ein langsames Lesen, eine mehrfache Lektüre, denn sie erschließen sich Lesenden kaum, wenn sie rasch und hastig darüber hinweglaufen oder -stolpern. Eine subtile Lyrik, mit der wir es hier zweifellos zu tun haben, erfordert Muße und Zeit, und Cvetka Lipuš führt uns gekonnt vor Augen, was das bedeutet. Kosmische Metaphern verwendet sie etwa im Gedicht „Enthüllt“:
Ein Meteor reist durch den interplanetaren Raum. Ein Fragment größerer Dramen, bewegt er sich unbemerkt zwischen den Sternen des Alls. Klein und unbedeutend rast er im Schatten einer Mega-Kraft dahin, bis es ihn plötzlich verreißt – und er einbiegt in die Bahn der Erde. Hell glüht er auf: Seht mich an, ihr Ofenhockerinnen des Himmels.
Das lyrische Ich, und ich glaube: die Autorin, nimmt in der Kursiven die Position des Meteors ein. Dieser, auf seinem ewigen Flug durch den Raum, steht für das Reisen, aber auch für Rastlosigkeit, die durch die Metapher des Alls zu einer unstillbaren wird. Anfangs klein, schwenkt der Himmelskörper plötzlich auf die Erdbahn ein und wird zu einer Gefahr. Das angeführte Aufglühen ist nur durch den Eintritt in die Atmosphäre möglich, und wie hoch die Gefahr ist, hängt von der im Text nicht definierten Größe des Meteoriden ab. Die weiteren Strophen dieses Gedichts sprechen die seit der Antike bekannte Faszination des Menschen für die Gestirne an, ihre Beobachtung, die sich bis heute nicht nur gehalten hat, sondern durch unsere technischen Möglichkeiten enorm verbessert wurde. Eine Frage taucht auf: „Was, wenn da draußen niemand ist, dem wir Seele und Körper / überlassen können?“ Klein und unbedeutend sind wir selbst, und „Satellitenbilder“ bestätigen das.
Wir mögen Anfänger*innen im Weggehen sein, doch auf keinen Fall sollten wir von diesem Buch weggehen, von seinem vielschichtigen, emotional aufgeladenen lyrischen Universum. Gehen wir lieber auf es zu, denn am Ende steht das zu Literatur geronnene Wort:
Wir folgen einander auf den Fersen, durch alle Aufstiege und Stürze der Reiche hindurch, die Vorfahren aber ziehen sich zurück in steinerne Gedenktafeln. Sie hinterlassen eine mit Worten befrachtete Landschaft.
Die beiden letzten Zeilen im Original:
Za sabo puščajo pokrajino, obteženo z besedami.
Cvetka Lipuš: Weggehen für Anfänger. Otto Müller Verlag, Salzburg 2023. 148 Seiten. Euro 23,–