Reinhard Lechner liest Thilo Krauses Dass uns findet, wer will.
2018 entdecke ich die Gedichte von Thilo Krause über seinen dritten Band Was wir reden, wenn es gewittert. Präzise gesetzte Bilder, mal machen sie animistische Kindheitserinnerungen auf, dann sind sie wieder geschichtssachlich, der heutige Mensch, wie er sich spiegelt in Kultur und Natur. Eine reduzierte und unaufgeregte, intensive Lyrik, ohne formale oder inhaltliche Sprachartistik:
Meine Elbe, deine Elbe Baldrian und Seife atmen herauf. Ufergestrüpp, aus dem die schartigen Köpfe der Feuerzeuge leuchten. Der Raum zwischen den Jahren ist groß dass Platz hat, was Platz haben kann: Flügelschlagen, Klicken von Eisen, Strömungsgesäusel. …
Von den meisten Gedichten werde ich damals sofort ein Anhänger. Für den Band erhielt Krause den Peter-Huchel-Preis. Seine Lyrik wird in der Folge nicht nur positiv diskutiert. Von zeilengebrochener Prosa ist die Rede, davon, dass es eben gerade schwierig sei, den freien Vers zu beherrschen, rezensiert Amadé Esperer im Signaturen Magazin. Krauses 2020 folgendes Romandebüt Elbwärts wurde mit dem Robert Walser-Preis ausgezeichnet.
Groß ist dann die Neugier, als ich Anfang dieses Sommers entdeckte, dass der Autor nun wieder neue Gedichte veröffentlicht hat. Seine Motive aus Was wir reden, wenn es gewittert greift Thilo Krause weitgehend auch in Dass uns findet, wer will wieder auf: Kindheit, Familie, Heimat. Und noch epischer sind die Bilder in diesem vierten Gedichtband gesetzt. Ein wenig dauert es bei mir mitunter, bis manche Gedichte zünden, mehrere Male lese ich sie.
Als Dank saugen sie mich wie durch ein Zeitloch ein. Und staunend falle ich heraus, in einer Jungenkindheit in der DDR:
All die schwitzig taumelnden Nachmittage mit Computerspielen inmitten zu klein gewordener Möbel … Wir bohrten die Gegenwart an und tranken gierig … bis wir wieder aufzutauchen hatten in den Kulissen der Geschichte verkaufte Fabriken, stillgelegte Gelände wie von schwerem Feuer verwüstet aber unsere Kinderzimmer für die Ewigkeit so wie wir uns weigerten, die zu werden in die wir uns zu verwandeln hatten: Grenzgänger, Zeitreisende zwischen einem System und dem nächsten. …
Informationen zu Verfasser, historischer Hintergrund
Thilo Krause wird 1977 in Dresden geboren. Er wächst in der späten DDR auf, als sie wirtschaftlich und ideologisch langsam ihrem Ende zusteuert. Als Jugendlicher erlebt er den Zusammenbruch der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Heimat, Fremde, Erfahren, Erinnern – dieser Themenkomplex zieht sich aus der biografischen Erfahrung heraus wiederholt durch seine Bücher. So heißt es im Gedicht Systeme aus Was wir reden, wenn es gewittert:
Schule. Schaltstation des Plattenbauviertels. Zugiger Block aus schlechtem Glas und Beton. Mehr Schutz als Behausung. Unterstand, für die alltägliche Verrichtung des Lernens. Wir kamen dahin Vorstadtlümmel, Nichtsnutze ohne Wahl und Willen –
Und auch in Elbwärts, seinem Roman, sind Heimkehr und Erinnern zentrale Motive. Der Ich-Erzähler kehrt nach der Wende in ein sächsisches Kindheitsdorf zurück und nichts ist dort mehr, wie es war.
Wie und wo habe ich das Buch gelesen
Ich lese Dass uns findet, wer will im Juli und August zuhause in meiner Altbauwohnung, eine typische Sommerlektüre also, die Sommerhitze drückt und selten regnet es, abgesehen von dem einem und anderem abendlichen Gewitter. Vielleicht fällt mir eine Gewichtung der Bildsprache im Buch gerade deshalb so auf: die auf Wasser. Kaum ein Gedicht bei Krause, in dem es nicht in einer Form auftritt: Bach, Fluss, Baggersee, Frühlingswasser, Regen, Pfütze, Meer, Schnee, Eis. Auch seine Bewohner sind zahlreich vertreten (Fische, Wasserläufer). Und die entsprechenden Verben (angeschwemmt) und Adjektive (nass) sammeln sich in den Gedichten an.
Erfahrungen, literarische Besonderheiten
Die Verse werden wie Artefakte aus der Kindheit mit einer Pinzette unter die Lupe aus dem Kinderdetektivkoffer gehalten, so präzise arbeitet Krause. Vielleicht liegt manchmal eine gewisse Sperrigkeit, oder besser, Verschlossenheit an ihrer Geschichtsträchtigkeit. So kündigt zumindest der Klappentext an: Krauses neue Gedichte erzählen von Kindheit und Jugend in der DDR, davon, welche Spuren die Geschichte in Dinge und Menschen einschreibt. Geschichtlichkeit ist ein dosiertes Hintergrundrauschen, sie tritt einmal weniger, einmal mehr hervor. Die Gedichte sind oftmals biografische Porträts des Jungen Thilo bzw. des lyrischen Ichs, dass eine Welt vorfindet, beobachtet und begreift – es begegnen uns also vielmehr Geschichten, ein Bilder- und Metaphernmix aus biografischen Details, Natur und Gesellschaftsleben:
… Das Erinnern ähnelt dem schmalen Saum am Straßenrand wo das glitzernde Wasser des Tags zurückfriert ins Dunkel.
Blicken wir auch auf den inhaltlichen Aufbau. Die Gedichte sind in zwei Kapitel geteilt, die jeweils mehrere Unterkapitel in sich tragen. Kapitel Eins behandelt die DDR-Zeit des lyrischen Ichs (Eine Geschichte vom Krieg, Vater, Schüler, Mit dem Geschmack eines zerbissenen Kerns). Kapitel Zwei tut dies ebenso, die Gedichte reichen dabei jedoch bis in die Gegenwart des lyrischen Ichs hinein, in der aus dem Jungen ein Dichter geworden ist (u.a. Vom Planeten des Schreibens oder Tagränder, Reinschriften).
Die Gedichte in Dass uns findet, wer will sind eine äußerst feinstoffliche Erinnerungslyrik, die uns live vorführt, wie Erinnern funktioniert. Einige Gedichte verlangen mir summa summarum eine gewisse Geduld ab. Sie gehen über mehrere Seiten, die biografischen Erinnerungen, die Naturbeschreibungen und die geschichtlichen Artefakte sind gerne bis ins kleinste impressionistische Detail ausbuchstabiert. Dafür wird man belohnt, denn die bildliche und klangliche Reichhaltigkeit und Klarheit sind unverwechselbar Krauses lyrische Handschrift, von der noch viel zu erwarten und lesen sein wird:
Der oben vorgestellte Gedichtabschnitt schließt dann folgendermaßen:
Wild gestikulierten die Eltern hinter dem Panzerglas aus Super Mario und Battle of Britain aber wir, in unserem Verhau aus IKEA und VEB konnten sie einfach nicht hören.
Thilo Krause, Dass uns findet, wer will. 2023, Hanser, München, 22 Euro.
Cover © Hanser Verlag