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Das Knistern des Daseins

Das Knistern des Daseins

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Lukas Meschik liest Robert Schindels Flussgang


Es ist eine grundsympathische Stimme, die in Robert Schindels neuem Gedichtband zu einem spricht, gelingt es ihr doch, die tiefen Abgründe des Abschiednehmens und der Vergänglichkeit mit einnehmender Gelassenheit und augenzwinkernder Sprachlust abzubilden. Flussgang fügt sich dabei nahtlos in ein Jahrezehnte umspannendes lyrisches Werk, das 1986 mit Ohneland seinen Anfang nahm.

Die nach fast zehn Jahren Pause veröffentlichten neuen Gedichte sind ein guter Anlass, sich mit den „alten“ vertraut zu machen, die sich als erstaunlich frisch und also zeitlos erweisen. Zur Vorbereitung – romantischer: zur Einstimmung – verschaffte ich mir einen besseren Überblick über Schindels bisheriges lyrisches Schaffen, mit dem ich (Asche auf mein Haupt) bisher nur sporadisch vertraut war. Dieses Vorwissen, also ein „Vorkennen“ seiner Lyrik, öffnet neue Erkenntnisräume.

Cover © Suhrkamp

Poetenzores

Es gibt Tage da wollen die Wörter nicht kommen
Es gibt Nächte da wollen die Wörter nicht gehen

Interessant ist, dass seine Bücher nicht in der Reihenfolge ihres Entstehens erschienen sind, so versammelt laut editorischer Notiz Schindels dritter Gedichtband Im Herzen die Krätze zwischen 1965 und 1978 entstandene Texte, kam aber erst 1988 heraus. Wer schreibt, kann ein Lied davon singen, dass Schreiben die eine Sache ist, Verlagssuche und Überzeugungsarbeit, das Geschriebene in der angestrebten Form herauszubringen, aber eine ganz andere. Eine Denkschrift zu Schindels Gesamtwerk würde hier den Rahmen sprengen, es allerdings nicht in den Kontext einzubetten, hieße über Blüten zu sprechen und dabei die Äste, den Stamm und die Wurzeln zu übersehen. In einem frühen Gedicht heißt es: „Aber schau weg. Geh fort. Ich will noch bleiben / Einige Jahre in den Landschaften, die mich von gestern / Vielleicht nach morgen bringen. Lass mich in die alten Gesichter zeigen.“ („Café Dobner – Epitaph“) Wir sehen hier einen Anfang, der immer auch das Ende mitdenkt.

Flussgang ist organisch aus einem Schreibleben gewachsen, kehrt zurück an Ursprünge und träumt etwas weiter, das für Schindel 1944 in einem Albtraum begann. Dass sein Vater im Konzentrationslager Dachau ermordet wurde, seine Mutter die Konzentrationslager Auschwitz und Ravensbrück überlebte und Schindel selbst nur knapp seiner Deportation entging, soll gerade jetzt nicht unerzählt bleiben, da in unseren Breiten fast täglich israelische Fahnen beschädigt werden und Übergriffe gegen jüdische Mitbürger stattfinden. Wir dürfen nicht vergessen, wo das, was immer und immer wieder beginnt, irgendwann enden kann. Der Lyriker Schindel vergisst es nicht – wie auch? – und setzt dem seit jeher und auch in Flussgang eine trotzige Lebenslust entgegen.

(...)
Vor mir die letzte Kurve des Mäanders
Erklommen mit dem Rückenwind der Schrecknisse
Da sie mit Leuten heizten ihre Paradiese
Und Kirtag hielten auf der braunen Wiese
(...)
In alter Haut fühl ich mich splitterneu
Bis die Metapher kommt: Bei Sturm und Flocken
Schnee im April bis über beide Socken

In sieben Kapiteln mäandert Schindel durch Naturbetrachtungen, Vergangenheitsbewältigung und Alltagserfahrungen, durch einnehmende Szenen vertrauter Zweisamkeit, wo die größte und schönste Nähe zwischen Menschen darin besteht, miteinander und über einander lachen zu können, auch beim Aufzählen der vielen Wehwehchen. Älterwerden ist kein Spaß, vielleicht sogar ein Massaker, wie Philip Roth sagt, und es ist unsere Aufgabe, dagegen anzulachen.

Spätwerk ohne Altersmilde

Flussgang ist ein Spätwerk, ein Alterswerk, wenn man so will, deshalb kehrt jedoch noch lange keine Altersmilde oder gar Altersschwäche ein, eher eine Altersgelassenheit, die sinnvoll entscheidet, welchen Kampf zu kämpfen es sich lohnt. Das lyrische Ich ist beileibe keines, das „nichts mehr erschüttern kann“, im Gegenteil, dieses lyrische Ich entscheidet sich bewusst dafür, sich nach wie vor aus allen Richtungen berühren, bedrücken oder eben unbedingt erschüttern zu lassen, Grund dafür gibt es genug. Die Lebenserfahrung ist kein Schutzpanzer geworden, bietet lediglich eine hilfreiche Abfederung. Immer wieder fliegen Vögel auf und zwitschern gern als frohlockende Boten einer Welt, die sehr gut ohne uns auskommt.

Fehlerchen

Obwohl ich bereits gestorben bin
Höre ich durch mein Fenster im Erker
Vogelgezwitscher.

Fink Star Drossel
Fink Star Drossel
Pirol

Ist Flussgang also ein Abgesang? Nein, doch eher eine Anrufung, ein Anheben zum späten Gesang, der hoffentlich kein letzter ist. Reich an originellen Bildern verortet sich eine menschgewordene Wahrnehmungssonde in einem Leben, das von Sprache durchdrungen ist und sich erst durch Sprachwerdung zu Sinneinheiten fügt. Schindel gelingt dabei der Spagat zwischen hochverdichteter Poesie und nonchalanter Umgangssprache, in dem man den banalen, schrundigen, grindigen Alltag erkennt, den zu verbringen eher ein Durchwursteln und Durchschwindeln ist. Manche Gedichte sind verspielt und herrlich derb, ohne jemals ins Vulgäre abzurutschen. Da gibt es einen „Popsch“, das „Scheißerne an der Angst“, das lyrische Ich scheißt sich sozusagen nix. Wo viele ihre Sprache besonders sauber halten wollen und damit eine erstickende Sterilität herstellen, tut das verdammt gut. Dialekt darf nicht nur, sondern muss manchmal einfach sein.

See Also
Cover Steinbacher Dass es auch zählt

(…)
Den Popsch in der Höhe der Fahrer bimmelt die Foxln an und
Die springen links und rechts beiseite der Wolf mit dem letzten
Der Foxln in der Goschn blickt der Bim knurrend entgegen
Mault und schon fällt das Hunderl runter da ist der Achtzehner
Schließe ich das Fenster oder lass es geöffnet weils warm ist
Geh zurück ins Bett merke im Erwachen dass ich eh im Bett lieg
(…)

Amüsierter Entdeckergeist

Diskrete Highlights sind kleine „Bettszenen“, allerdings nicht solche aufbrandender Leidenschaft, sondern jene der warmen Schläfrigkeit und abgekämpften Heimeligkeit. Beschrieben wird ein langsames Schauen, die Müdigkeit eines Auges, das sehr viel gesehen hat, was den Blick schärft; ein altes, erfahrenes Auge kann Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden – oder Interessantes, Neues von tausend Mal Gesehenem. In Flussgang regiert der amüsierte Entdeckergeist, das Ich bleibt voll geruhsamer Neugier auf die Gegenwart, begibt sich etwa zur Ahnenforschung per Internet-Recherche auf verwandt.de, die deutsche Version von myheritage, was aber eher enttäuscht und den Mauszeiger in die Mausefalle tappen lässt.

(…)
In den Müdigkeiten schwimme ich neuerdings
Wie in einem moorschläfrigen See
Auf den Munterkeiten reiten wir
Wie durch den grauen Tann

In jedem guten Gedichtband lernt man das eine oder andere neue Wort. Bei mir war es „senex“, es kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „alt“, „bejahrt“, im übertragenen Sinne „reif“. Bei Schindel erhalten gleich zwei Gedichte dieses Wort als Titel, seine Beschreibungen von Körpererfahrungen liefern eine beeindruckend heitere Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit; an keiner Stelle entsteht ein jammervoller Ton, Gebrechen werden sprachsicher erfasst und poetisch verwertet. So entsteht durch Sprache eine Souveränität.

Im Hospital

Dohlen mit Extrasystolen
In meinem Blut
Einige Kleinstsonnen
Gegen die größere Schwäche
Liegen vor dem Einnehmen
In der Handfläche

Wo viele verstummen würden, schwingt diese Stimme sich auf zum meisterhaften Freiflug übers Geschehen. Robert Schindel hat mit Flussgang seinem lyrischen Werk einen vorläufigen Schluss-Stein gesetzt, der hoffentlich noch keiner ist. Hier klingt weiter, was in den ersten Bänden angeklungen ist – es soll noch lange nicht verklungen sein. Wir können uns nur wünschen, dass der nächste Gedichtband nicht wieder so lange auf sich warten lässt.

Gebet

Blühe Gedicht im Sprachherbst
Inmitten verzankter Dative und
Ausgebleichter Akkusative blühe
Aus ihnen heraus heraus
Aus dem Gegenwärtigen
Blühe aus dem das Künftige
Abschlagenden Sprachschutt.

Ranke dass deine Dolden
Unsere Kinder verköstigen

Robert Schindel: Flussgang. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2023. 95 Seiten. Euro 24,–

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