Ewald Baringer liest Das Herz von Wolfgang Bauer als Winterlektüre
In einem 1981, anlässlich des Jubiläums „25 Jahre Residenz Verlag“, erschienenen Almanach für Literatur und Kunst („Zeitgenössische Literatur. Literatur für Zeitgenossen“) schreibt der damals 40-jährige Wolfgang Bauer: „Manche Künstler sind Dichter. Es sind jene ärmsten Teufel, die den künstlerischen Akt auf dem Nagelbrett der Buchstaben, dem glühenden Grillraster der Sprache ausführen müssen oder nicht anders können. Es sind Fakire, adelige Fakire.“
Künstlern solle man in Ehrfurcht begegnen und – so man reich sei – sie mit einem Scheck bedenken, so Bauer. Gerechtfertigt sei auch das „feierliche Gehaben etwa der Theaterbesucher, wenn sie einen Musentempel betreten“. Nur „die Duckmäuser und die Anbiederer gehen in dreckigen, löchrigen Jeans einher.“ Denn die Kunst sei heilig.
Die scheinbare Apodiktik dieser Formulierungen irritierte mich schon vor Jahrzehnten, und auch jetzt beim Wiederlesen frage ich mich, wie viel Ironie sie womöglich enthalten, zugleich frage ich mich, ob Ironie und Ernsthaftigkeit einander ausschließen, und neige dazu, die Frage zu verneinen. Vielleicht ist Ernsthaftigkeit ohne Ironie gar nicht vorstellbar, fiele ins peinliche Pathos, in unerträglichen Bierernst, ins Doktrinäre und/oder Verzweifelte.
In der Alten Schmiede in Wien las Bauer einmal aus dem Briefroman „Der Fieberkopf“, für mich eines der großartigsten Bücher überhaupt. Nach der Veranstaltung ersuchte ich ihn um eine Widmung in mein Fieberkopf-Exemplar. Er überlegte kurz und brummte missmutig „Owa an Roman schreib i jetzt ned“. Immerhin stand schließlich da: „Sehr herzlich, W. Bauer, 19.9.2000“. Eines Abends – wahrscheinlich bei „Rund um die Burg“ – erlebte ich ihn mit Gedichten, darunter eine virtuose Schimpfkanonade gegen den „Krüppel Sprache“, die so beginnt:
Sprache, du Krüppel lächerliches Geschwür deiner selbst röchelnder Auspuff Weltverzerrer widerlicher Teenagertraum zitternden Hirnpuddings Ein grandioser unerhörter Rundumschlag gegen die korrumpierte Allgegenwärtigkeit der Sprache, gegen den „Propagandastaat aus Dichtkunst“ und die „rührseligen Schwingungen“.
Oft träume ich, du würdest beim Wort „Gefühl“ krepieren dich qualvoll verschlucken an der Bedeutung
Der parasitären Übermacht der Sprache wird eine gewalt(tät)ige Strategie entgegengehalten:
in dich will ich mich einschleichen dich von innen aushöhlen bis du dich vergißt und Welt und Zeit wieder eins sind Dann setze ich Dir einen wortlosen Grabstein aus nichts Vorher aber noch will ich dich teuflisch foltern chinesisch, japanisch, mittelalterlich werde ich dich zwicken mit glühenden Zangen Pfau hinkender daß du jammernd zu Grunde gehst Kurz vor deinem schrecklichen Tode werde ich noch - ob du es willst oder nicht - dichten mit dir, daß du schreist!
Dichten also nicht als verklärende Attitüde, als Pose der Hingebung an Inspiration durch Musen, sondern als gewaltsamer Akt, als Sieg über die geradezu feindliche Sprache, als Flucht vor dem „Schwarm von Gleichnissen“ mit ihren „süßen Dienstbarkeiten“ und „gurrenden Metaphern“, die klischeehaft jedem Substantiv anhaften:
die Wüste eine Leere der Wald ein Schilderwald die Stadt ein Häusermeer die Nacht ein Mantel die Sonne ein Ball der Mond eine Sichel
Der Titel des 1981 im Residenz Verlag publizierten Bands „Das Herz“, in dem „Krüppel Sprache“ enthalten ist, rückt ebenfalls einen poetisch extrem befrachteten Begriff in den Fokus. Das Herz als romantisierende Metapher für Gefühl(iges), als Bestandteil berüchtigter Herz-Schmerz-Lyrik, als Liebessymbol. Bei Bauer, dem gern als Bürgerschreck apostrophierten Autor deftiger Dramen, könnte man meinen, ist das fehl am Platz.
Und doch ist etwa „Ankunft in Jamaica“ im Grunde ein schönes Liebesgedicht, dessen Beginn heute vermutlich bei vielen Irritation auszulösen vermag: „Die Neger schauen wie Sklaven/ durch die Glaswand am Airport“. Geringschätzig ist das meinem Empfinden nach nicht gemeint, denn nur wenig später stolzieren die „Schwarzen von gestern“ leichtfüßig einher, „paradiesisch / als wäre gerade ein ewiger Friede ausgerufen.“ Darin liegt wohl kein Rassismus, eher Bewunderung und ein sehnsüchtiger Hauch von Utopie – eine Haltung, hinter der man heute schnell geneigt sein mag, ein verstecktes Überlegenheitsgefühl zu vermuten. Ob Bauer hier bewusst mit Stereotypen, Dichotomien und Projektionen agiert oder ihnen erliegt, ist nicht einfach zu beurteilen.
Denn im Verlauf der Gedichte legt Bauer die kritische Attitüde beiseite und spielt selbst mit Klischees und Metaphern, jedoch auf souveräne und teils sarkastische Weise, und wer Bauer jemals bei einer seiner stets theatralischen Lesungen erlebte, kann auch den entsprechenden Vortrag dazu imaginieren. Seine zahlreichen Reisen finden Niederschlag, von Aix bis Singapur, vor allem die USA haben es ihm angetan: in Carolyn’s Café in Berkeley, in Harry’s Bar in New York („dem kleinsten Ende der kleinen Welt“) oder im roten Ford Camaro durch Las Vegas („die schwarze, schlafende Wüste / von Nevada / in der die Klapperschlangen / wie einarmige Banditen rasseln“). In James-Dean-Laune geht es über den Boulevard of broken dreams, das Gedicht „Skizzenbuch“ besteht aus geografischen Flashbacks in surrealistisch-albtraumhaft anmutenden Vierzeilern:
Café Trieste in San Francisco ein Norweger verkauft Ektoplasma zu Billigstpreisen niemand will es alle trinken Espresso
In „Anatomie der Poesie“ stellt sich Bauer die Grundsatzfrage „Was soll ich schreiben?! Alles?!“ und startet eine seiner manisch-irrwitzigen Aufzählungen von Gedanken und Bildern zwischen Alhambra, Yogis, Taucherglocke, St. Veit an der Glan und dem Genie auf der Herrentoilette.
Das finale Gedicht heißt „Das Herz“:
ein Selbstmörder ist mein Herz Profi-Selbst-Killer Rucksack mit tausend Pistolen fällt es der Schwerkraft lachend entgegen mein Ich als fröhlichen Fallschirm verwendend als Unterhalter Poeten Hofnarren als fernen Kondensstreifen für seine tiefe Bewegungseinsamkeit in meiner Finsternis
„Davonschleichen“ wolle sich das Herz:
zu den Hexen will es mit ihnen sich kreischend zu Tode raufen um den Tod
Rückblickend geradezu eine Self Fulfilling Prophecy: 24 Jahre nach Erscheinen des Gedichtbands ist Bauer 64-jährig einem Herzleiden erlegen.
Bemerkenswert ist auch die Zueignung des Buchs „für Rolf Bauer, den Dichter“. Rolf Bauer war der Vater, Gymnasiallehrer, literarisch ambitioniert, kunstinteressiert, aufgeschlossen und wertschätzend wie auch die Mutter. Somit bot das Elternhaus offenbar nicht, wie in vielen anderen Biografien, Anlass zu Konfrontation und Widerstand.
Keinesfalls übersehen sollte man den für Bauers herrlich lakonischen Humor typischen Text auf der Rückseite des Buchcovers:
Nachdem ich diese Gedichte beendet hatte, ging ich längere Zeit mit seitlich ausgestreckten Armen durchs Zimmer. Ich erwartete nicht, daß etwas geschehen würde – und es geschah auch nichts!
Wolfgang Bauer: Das Herz. Gedichte, Residenz Verlag, Wien, 1981, vergriffen