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WINTER zu WINTER – die österreichisch-amerikanische Dichterin Elisabeth Frischauf gastiert in Wien

WINTER zu WINTER – die österreichisch-amerikanische Dichterin Elisabeth Frischauf gastiert in Wien

Regina Hilber liest Elisabeth Frischaufs They Clasp My Hand. Die meine Hand ergreifen als Winterlektüre


Vor genau einem Jahr erlebte ich die österreichisch-jüdische Exil-Autorin bei ihrer Lesung im Bookshop Singer am Rabensteig 3, der leider im Herbst des Vorjahres seine Pforten schließen musste. Online bzw. im Buchladen des Jüdischen Museums in der Dorotheergasse ist eine Auswahl an Büchern und Judaica-Artikeln von Dorothy Singer weiterhin erhältlich.

Nicht nur lektüretechnisch über den Großen Teich blicken – Erinnerungskultur in persona erfahren: Nach zwei Jahren der Pandemierestriktionen mit ihren Reiseverboten bzw. Reiseeinschränkungen und zwei nachfolgenden Kriegen, die die westliche Welt erheblich aus den Angeln heben, war ich dankbar für die kosmopolitische Zusammenkunft. Mehr noch, ich inhalierte die zweisprachige Lektüre (Englisch/Deutsch) und das Privileg, auf eine Autorin jenseits des Atlantiks zu treffen. Der Rabensteig und die umliegenden Gassen mit dem Stadttempel in der Seitenstettengasse waren vor zweieinhalb Jahren Schauplatz eines radikal-islamistischen Terrorangriffs gewesen, der auch als antisemitischer Angriff zu verstehen war.

Auch dieses Jahr, am 26. Februar 2024 wird Elisabeth Frischauf in der evolutionsbibliothek im WUK neue, und zum Teil unveröffentlichte, Gedichte lesen. Dies nehme ich zum Anlass, den Gedichtband nach exakt 12 Monaten noch einmal zu lesen und zu rezensieren.

Seit ich in die ersten Gedichte des Lyrikbandes eingetaucht war, wiege ich den deutschen Titel des Buches Die meine Hand ergreifen ab, beprüfe ich die Übertragung, denn vielmehr sehe ich, empfinde ich und interpretiere ich Frischaufs titelgebende Hand mit ihrem selbstgewählten englischen Titel They Clasp My Hand als eine, die sich damit von ihrer exilierten und mittlerweile verstorbenen Familie handreichend „umfasst“ bzw. „umklammert“ sehnt.

Foto © Regina Hilber

Schnell wird klar bei der Lektüre, dass die Autorin Trost findet in diesem literarischen wie liebevollen „Umfasstsein“ der persönlichen Familiengeschichte, die auch eine Klammer (im positivsten Sinn) sein kann, eine Klammer, die letztlich alles zusammenhält, zusammenfassen und zusammenhalten muss, was in direkter Nachfolgegeneration der Shoa-Überlebenden aus Nazi-Deutschland zu Lebzeiten der Eltern oftmals als „das Unausgesprochene“ über ihrer aller Alltag in New York City schwebte.
Das kollektive Trauma, ausgelöst durch den Holocaust, bestimmte (und das tut es auch in der Gegenwart) mit und ohne therapeutische Hilfe, mehrere Generationen hindurch. Mit dem Krieg in der Ukraine und dem brutalen Terrorakt der Hamas-Milizen in Israel am 07. Oktober des Vorjahres (und nachfolgendem Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung), werden neue kollektive Traumata nachhaltig das Leben mehrerer Generationen bestimmen. Umso zeitaktueller, und gleichzeitig für uns als Leser eindringlicher, führt uns die Autorin die anhaltende Problematik des kollektiven wie individuellen Traumas vor Augen.

Als „kunstvoll fragmentierte poetische Rede“ beschreibt Konstantin Kaiser Elisabeth Frischaufs Verse, „die von der einst weitverzweigten Familie handeln, von der gegenwärtig bleibenden Ermordung der Großmütter, von der Traumatisierung der Überlebenden.“

Die lyrische Evokation, die mitunter mit lyrischer Prosa changiert, ist Teil des titelgebenden Langzyklus Die meine Hand ergreifen. I. Schluss/All over heißt es zu Beginn der Wohnungsauflösung, nachdem „DER ANRUF „die Tochter erreicht. Vaters Arbeitszimmer mit dem „Danish-Teak Schreibtisch“ wird im Gedicht „ALLES RETTEN“ zum Wächter einer Erinnerung, einer Erinnerung, die der 1947 im New Yorker Exil geborenen Elisabeth Frischauf die Hand reicht. Und vice versa wird von den angerufenen, zärtlich in den Textkorpus komponierten Familienbanden die Hand zurückgereicht an die Autorin. Die Conclusio könnte nicht schöner sein – zusammen umfassen sie sich, geben sich Halt, bilden ein starkes Konglomerat.

Elisabeth Frischauf, ausgebildete Fachärztin für Psychiatrie, später interdisziplinär arbeitende Künstlerin und Autorin, lässt ihren eben erst verstorbenen Vater, der wie ihre Mutter rechtzeitig vor der drohenden Deportation in die USA flüchten konnte, in ihrem Gedichtband lyrisch noch einmal „in die Welt“ der Tochter kommen:

ALLES RETTEN

Es ist Zeit, 40 Jahre des Lebens meiner Eltern in dieser 
Wohnung abzuschließen.  

Bald keine Besuche mehr
keine Zeit mehr unschlüssig zu sein –
blaue Kristallschale oder
langhalsige Bodenvase?

Schritte hörbar
wo der abgenutzte Teppich lag.

Ecken, Kommoden
Regale, Schuhschachteln
Laden quellen über
	„Du könntest es eines Tages gebrauchen.“

Beim Auflösen der Elternwohnung „Ecke Riverside Drive“ und „78ster“ erlebt die Lyrikerin hautnah noch einmal die Migrationsgeschichte ihrer Eltern, den Holocaust und das eigene Zurechtfinden als Migranten- und Exil-Kind jüdischer Eltern. Das „c“ aus dem Nachnamen wird getilgt, aus Frischauf wird Frishauf, so wirkt man in der neuen Heimat weniger befremdend. Sie ruft sich alle Familienmitglieder, die sie aus den elterlichen Erzählungen kannte nicht nur ins Gedächtnis, sie gibt ihnen Raum und Stimmen in den Gedichten, verleiht ihnen Gehör und Würde, reicht ihnen die Hände, umfasst sie, Trost gebend und Trost empfangend. Trost, den es eigentlich nicht geben kann. Nicht, wenn im Gedicht TIEFER TAUCHEN die Todeschronik der ermordeten Familie die ganze Tragweite und Grausamkeit des Holocaust offenbart.

They Clasp My Hand. Die meine Hand ergreifen ist das Gegenteil von Kasuallyrik. Nie melancholisch oder pathetisch, gibt der Gedichtband ein poetisches Zeitdokument vor, dessen Sprachmittel „Klarheit“ ist.

Neben dem Vater (Stephen – er wird namentlich nie genannt) erzählt die fragmentarische Lyrik auch von der zuvor verstorbenen Mutter Else Frishauf, geborene Pappenheim, auch sie hat zeitlebens in New York City als Psychoanalytikerin (in der elterlichen Wohnung) praktiziert. In „TÜREN ÖFFNEN SICH. TÜREN SCHLIESSEN SICH“. beschreibt Elisabeth Frischauf die psychoanalytische Couch der Mutter:

[…] Unter dem Fenster die dunkel-blauwollene 
psychoanalytische Couch.
Ein niedriges Bettgestell verbirgt
diskret ihren taubengrauen Stuhl,
den sie beim Zuhören einnimmt. 

[…] Worüber spricht ein Fremder
mit Mutter – liegend?

Haben sie schlechte Träume 
wie ich sie habe?
Nacht für Nacht höre ich 
während ich in meinem 
warmen Bett schlafe, 
wie mannshohe schwarze
Stiefel krach zack
die massive Tür zersplittern
und durch das Monsterloch
stampfen […] 

Dem zweisprachigen Lang-Zyklus They Clasp My Hand ist ein Prolog vorangestellt in elf Abschnitten – I bis XI. Sie haben in englischer Originalfassung Eingang in den Gedichtband gefunden, ohne deutsche Übersetzung:

I.MY HOLOCAUST

Mine is a holocaust survivor family,
huddled on our life raft – the new world children.
Hope, driven by loss.

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Selbstverständlich muss ein Lyrikband wie dieser auch abseits der (erinnerungs)kulturtheoretischen Rezeption gelesen und besprochen werden. They Clasp My Hand ist die Handreichung an eine Familienchronik, ein Abschiedsbrief, der stellvertretend für alle Familienmitglieder in der Gegenwart neu verheimatet wird, aber auch eine Reminiszenz an die frühe Psychoanalyse bzw. Psychotherapie ist, die stark in der österreichischen (und jüdischen) Tradition steht. Gleichzeitig lotet die Autorin aber auch die eigene Mutterschaft aus.

Dass die Autorin in zwei Sprachen beheimatet ist, verdeutlicht gerade dieser Prolog in seinen elf Abschnitten, in denen innerhalb der englischen Originalverschriftung immer wieder deutsche Zeilen in die Verse gesetzt sind, oder so wie hier, beide Sprachen ineinander verschmelzen in der Überschrift zu Abschnitt: „II. LEGACY OF DIE SCHRECKLICHE ZEIT/THE HORRIFIC TIMES.“

Er ist, wie Abschnitt „III. LATE HARVEST“, der Großtante Mitzi und dem Großonkel Hermann gewidmet. Epigraphe von Mitzi (Marie Pappenheim-Frischauf, Sozialistin, Schriftstellerin und Dermatologin) und Hermann (Hermann Frischauf, Pionier der Jugendpsychiatrie) sind in den Textfluss miteingewoben und zeugen vom Schrecken der Lagerhaft. Mitzi wird das Lager Gurs überleben, Großonkel Hermann Frischauf stirbt nach der zweijährigen politischen Lagerhaft in Buchenwald an Tuberkulose.

Der letzte Abschnitt des Prologs – „XI. POSTSCRIPT“ – heißt „NEVER AGAIN“. Spätestens seit dem barbarischen Übergriff der Hamas-Milizen in Israel am 07. Oktober 2023, aber auch seit dem anwachsenden, organisierten Antisemitismus (siehe u. a. „documenta fifteen“) muten Elisabeth Frischaufs mahnende Worte am Ende des Prologs erschreckend gegenwärtig an:

NEVER AGAIN!

Shout with me.
Raise your hands, swear
With me and Großtante Mitzi, my surviver muse,
never again
ever
NEVER AGAIN!

Elisabeth Frischauf: They Clasp My Hand. Die meine Hand ergreifen. Gedichte. Zweisprachig. Aus dem amerikanischen Englisch von Ernst Karner. Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft, Wien 2022, 195 Seiten, Euro 21,-


Zur Autorin:
Elisabeth Frischauf (geboren 1947 in New York) wuchs in der Upper West Side von Manhattan, New York auf. Elisabeth Frischaufs Mutter, die Psychoanalytikerin Else Frishauf (geb. Pappenheim, 1911 – 2009) floh 1938 vor den Nazis aus Wien über das Mandatsgebiet Palästina in die USA. Den ebenfalls aus Wien emigrierten Stephan H. Frischauf (Stephen H. Frishauf, 1920 – 2011) kannte sie von Kindheit an. Im Exil in den USA begegneten sich Elisabeth Frischaufs Eltern wieder und heirateten 1946.

Elisabeth Frischauf, ausgebildete Fachärztin für Psychiatrie in New York, ist seit über 40 Jahren künstlerisch aktiv und seit über einem Jahrzehnt ausschließlich als Künstlerin tätig. Sie arbeitet mit unterschiedlichen Materialien und in diversen Medien, schafft Keramiken, Aquarelle, Collagen, Mobiles und Installationen. Eng mit ihren Kunstwerken verbunden ist das Schreiben von Gedichten.

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