Allerorts wird die Pandemie als eine geschichtliche Zäsur begriffen, die mit dem weltweiten Lockdown nicht nur die größte Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg zur Folge hat, sondern auch die sich im rasenden Stillstand befindlichen Zeitgenossenschaft zu einer plötzlichen Einkehr zwang, wie sie bis dato unvorstellbar war. Was keine zigmal bedrohlichere Klimaerwärmung schaffte, gelang einem kleinen Virus, das von Wuhan aus seinen Siegeszug um die Welt angetreten hat. Ganze Volkswirtschaften wurden heruntergefahren und die in ihnen lebenden Menschen zu einem unvorbereiteten Großraumexperiment in Sachen Kontaktentzug und Selbstbeschäftigung bzw. zum Schmorren im Familiendruckkochtopf verurteilt. Schreib- oder Küchentische mutierten nolens volens zu Online-Offices, an deren Rändern sich nicht nur das schmutzige Geschirr stapelt, sondern auch die breit gefächerten Anforderungen des Paar- oder Familienalltags ständig hereinschwappen. Die Poesiegalerie fragte nach, welche Auswirkungen die Coronakrise auf das Leben und das Schreiben von Autor*innen hat, die schon einmal in der POESIEGALERIE gelesen haben. Dabei stellten wir folgende drei Fragen:
1. Wie hat sich der Lockdown auf das Leben und das Schreiben ausgewirkt?
2. Hat die Coronakrise den Blick auf die Welt, die Gesellschaft und die eigene Tätigkeit verändert?
3. Haben sich andere Themen und Formen des Schreibens oder Produzierens ergeben?
Ich habe die Coronakrise nicht als schreibfördernd erlebt. Die Notwendigkeit, meinen Brotberuf als Biologe unter den erschwerten Bedingungen fortzusetzen, das Homeschooling meiner Tochter und ein gewisser emotionaler Grundstress, der in dieser Zeit sicherlich für viele von uns spürbar war, standen dem im Weg. Aber vielleicht ist das auch eine Ausrede, weil ich zur Zeit mit dem Schreiben ohnedies etwas hadere und wohl auch ohne Coronakrise nicht so besonders glorreich vorangekommen wäre … Einflüsse der Krise auf Art oder Inhalt meines Schreibens könnte ich nicht nennen; generell sind momentane äußere Umstände – wobei das Wort „momentan“ für die Coronakrise mittlerweile kaum noch angebracht scheint – für mein Schreiben weniger wichtig als längerfristige Konzeptionen und inhaltliche Fortentwicklungen aus der inneren Logik des Textes heraus.
Kurz vor Inkrafttreten der Quasiquarantäne bedrängte mich ein ganz und gar bizarres Gefühl von Gefangensein als erzwungener Isolation. Doch insgesamt war ich mit den Maßnahmen einverstanden, wollte meinen Beitrag leisten, bewertete die hiesigen Einschränkungen der Ausgangs- und Lebensqualität zunächst als konsensuellen Akt von Anstand, Fairness und Loyalität. Mir gefiel die Rigorosität
der Argumentation, dass man in einer zivilisierten Gesellschaft vulnerable Gruppen schützen müsse. Ich fand und finde: Eine sozialistische, sogar eine anarchistische Weltauffassung verträgt sich hervorragend mit einem wegen einer Pandemie initiierten Shutdown – sofern man schleunigst jenen hilft, die Hilfe nötig haben. Ich dachte und denke: Jetzt wär’s – wie so oft – höchste Zeit für die Einführung von tauglichen Vermögens- und Erbschaftssteuern, für den Kampf für menschenwürdige Arbeits- und Lebenskonditionen, für ein Grundeinkommen als Mindestsicherung, die diesen Namen verdient, für Lohnerhöhungen in den unterbezahlten, sogenannten systemrelevanten Jobs. Eine radikale Umverteilung von oben nach unten bräuchte es, sozialistische Maßnahmen, dem Ideal einer egalitären Gesellschaft verpflichtet.
Was mich persönlich anbelangt, so empfand ich sowohl die anfänglichen Idylle-Beschwörungen von selig durch stillere Gassen flanierenden, an Blumen schnuppernden Happy People als entbehrlich als auch diverse wehleidige „Corona-Tagebücher“ oder naiv ichbezogene, polemische Krisen-Statements relativ privilegierter Promi-Kunstschaffender oder ManagerInnen.
In Bezug aufs Verständnis der komplexen Situation nützen (mir) keine „Kultur ist systemrelevant“-Einzeiler, sondern differenzierte Auseinandersetzungen respektive politisch (beziehungsweise an „der Welt“ (oder der Liebe/Hinwendung zu dieser)) orientierte Analysen oder sozialwissenschaftliche Beiträge, die nicht lediglich (mit welcher rhetorischen Raffinesse auch immer) persönliche Meinungen darbieten oder (egal, wie superinnovativ) allerlei private Befindlichkeiten in Szene setzen, sondern ernsthaft, weitblickender und vielschichtiger, vor allem empirisch wie logisch nachvollziehbarer zu argumentieren versuchen.
Wenn die Pandemie mein Schreiben beziehungsweise meine Überlegungen hierzu geprägt hat, dann – so glaube ich zumindest zum jetzigen Zeitpunkt – im Sinne einer Be- und Verstärkung der ständig aufs Neue einzuübenden, einzuverleibenden Intention als Haltung, mich nicht in irgendeiner „illusio“ (einer Akteurin im literarischen Feld) zu verlieren, sondern – eben mit den Mitteln lyrischen und prosaischen Schaffens – langfristig (gesellschafts)politisch tätig zu sein zu wollen und sein zu sollen.
Ich bin durch den Lockdown mehr zum Schreiben gekommen. Weil meine Frau Homeoffice machte, d.h. ich war an meinen Schreibtisch gebunden, konnte nicht Musik hören, Film schauen, Gitarre spielen, singen, faul auf dem Sofa liegen und lesen, Hausfreundinnen empfangen, rumtüddeln usw. Ihre Arbeitsdisziplin war ansteckend, der Arbeitsvirus hat mich erwischt, ich konnte ihm nicht ausweichen, unsere Wohnung ist nicht besonders groß … Mein Blick auf die Welt hat sich verändert. Ich bin froh, dass ich nicht mehr so viele umarmen und busseln muss.
Die meisten Menschen sind durch die Masken schöner geworden. Und ich kann ihnen die Zunge heraustrecken, ohne dass sie es merken …
Nix hat sich verschoben, außer dass ich nicht mehr so viel verschiebe. Vor dem Lockdown litt ich unter heftiger Prokrastination, aber die hat meine Frau durch ihre tägliche Anwesenheit so gut wie geheilt – sie hatte ein strenges Auge auf mich und meine Produktion. Ich schreibe jetzt noch mehr Briefe und E-Mails als vorher, z.B. der Kontakt zur Mutter musste und muss weiterhin aufrecht erhalten bleiben, er ist intensiviert worden, auch der zu anderen. Telefonieren tue ich nicht so gern und Video-Geschichten liegen mir nicht …
die tage dieses frühlings 2020 sind vorbeigegangen und unter die haut sind sie gegangen und dort haben sie sich eingeschrieben stehen da als nicht lesbar gewordene zeichen muss weiter weggehen und noch weiter um zu verstehen und ich gehe weg und ich kann nicht so weit weggehen bin in einem netz und es hält mich bin dort wie aufgehoben das netz ist fassbar das netz ist teil eines unfassbaren und dieses berührt mich kann etwas sagen und etwas dazu sagen und wenn es nur eine annahme ist die annahme einer stellung die angenommen sich sogleich wieder verlagert haben wird von dem einen standbein auf das andere so dieses eine wie dieses andere überhaupt zum stehen taugt sind sie wie angeknackst diese beine und darunter kein fester grund haben sich am stehen zu halten nur in dieser mir verschriebenen art und weise und gelassen in dieser einen oder anderen art standhaftigkeit und dem werde nun grund gegeben sich zu entziehen werde mir als eine jener haltlosen der als ob zottelwesen herumlotternden eine schwebe nun vorgesetzt in der ich mich möglichst geborgen fühlen möge umfangen von sich zusammengesponnen klebrigen weben mich anhalten könne wo nichts auf der hand liege wäre doch genug zum anhalten da ließe es sich zumindest gut anlehnen an dieser in aller öffentlichkeit großherzig umarmten angst und sehnsucht nach umarmung ist da und sie könnte schön sein die aufgezwungene mich scheinbar sanftmütig umhüllende stille ihr könnte ich verfallen und verfalle ihr auch lasse mich hinein ins volle und schöpfe aus dem vollen als ob alles im gleichen und im ungleichen zugleich balancierend im suchgang zur weiteren neige
Ende von Teil 1 unserer Umfrage. Nachgefragt hat Udo Kawasser.
Teil 2 folgt in Kürze: Unter der Sonne von Corona II