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Bilder einer Ausstellung

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Klaus Ebner liest Annett Krendlesbergers DALIEGENDE. UNBEWEGT


Eine Kunstausstellung im Belvedere von Wiener Künstlerinnen, die zwischen 1900 und 1938 wirkten und es damals schwer hatten, sich in einer männlich dominierten Kunstwelt durchzusetzen, inspirierte Annett Krendlesberger zu ihrem Buch, das bei fabrik.transit erschien. Mehr als zwanzig der präsentierten Exponate, Gemälde und Skulpturen tauchen direkt oder indirekt im Text auf, der sich gewissermaßen zwischen Lyrik und Prosa bewegt. Leser*innen finden ganz typische Gedichte ebenso vor wie Prosagedichte und rhythmische Prosa, die als Fließtext im linksbündigen Flattersatz gesetzt ist.

Annett Krendlesberger wurde 1967 in Wien geboren. Sie studierte Philosophie, Theaterwissenschaft und Betriebswirtschaft und lebt heute als freie Autorin. Auch ihre bisherigen Publikationen, meist als Prosa oder Prosastücke kategorisiert, tendieren für mein Gefühl sehr stark ins Lyrische.

Cover © Verlag fabrik.transit

Die im Buch enthaltenen Texte, deren Länge zwischen wenigen Zeilen und mehreren Seiten variiert, können einzeln gelesen werden, ergeben indes zusammen eine Art durchgehende Erzählung.

Die Grundfabel ist einfach erklärt: Es geht um eine kranke Frau, die bettlägerig ist und offensichtlich nicht mehr kommunizieren kann, möglicherweise sogar im Koma dahindämmert. Sie wird mit dem Namen Eva bedacht. Die Erzählerin versucht Kontakt aufzunehmen, tut das in Sprachbildern, die einen Bezug zu den Gemälden und Skulpturen der Kunstschau im Belvedere herstellen.

DU MACHST DIE AUGEN AUF

und siehst Schwarz, sage ich;
stell dir vor, du machst die Augen auf und siehst
unzählige gleißende Nadelspitzen, ein
Nadelspitzenkissen aus Samt;
und du denkst noch, das bleibt nicht so,
dieses Nadelspitzenkissensehen, (Mund auf!)
Nachttrinken, Nachtsandsamtsandtrinken (trink!),
du ertrinkst im Samtsandmoor;
und du denkst, du bist gar nicht wach,
(…)

atmest flach, atmest innerlich.
Das Leintuch, vom Speichel nass.
(…)

Das lyrische Ich, die Erzählerin, kommt in die Wohnung der Bettlägerigen und setzt sich zu ihr. Dort trifft sie regelmäßig Irina an, eine Pflegerin oder Verwandte, mit der sie sich austauscht und von der sie etwaige Veränderungen im Zustand der Kranken erfährt. Dass die Erzählerin bei der Ankunft ihre Schuhe neben jene Irinas stellt, mutet wie ein Ritual an. Birgit Schwaner erläutert im Nachwort des Buches, dass mit den Schuhen symbolisch der Alltag abgestreift wird und die gesamte Außenwelt draußen bleibt.

Die Rhythmik der Sprache

Insbesondere die längeren Stücke mögen zu einem schnellen Lesen verleiten, wie man es bei Prosa gewohnt ist. Doch diese Texte entziehen sich einer raschen Lektüre. Oft sind sie auf den ersten Blick nicht oder nur schwer erfassbar, und nur jene, die sich Zeit nehmen, dringen in die farbkräftigen Bilder ein, die Krendlesberger setzt, goutieren vereinzelte Wortschöpfungen („Samtsandmoor“!) und finden Eingang in den Rhythmus von Krendlesbergers Sprache. Ich sehe das ganze Buch als einen großen, rhythmischen Text, fast ein Epos, das zwar keine Reime anbietet, aber Leser*innen in ein geradezu tänzelndes und emotional berührendes, mitunter sogar märchenhaft wirkendes Abenteuer lockt.

ZWEI VÖGEL

sage ich zu Irina. Sie sind mir zugeflogen.
Ich bin vor ihrem Käfig gesessen und habe ihnen
zugesehen, wie sie da herumgehüpft sind auf ihren
Stäben, aufgeplustert, von einer Seite zur anderen,
wie sie, jedes für sich auf seinem Stab, dem
anderen gegenüber, mit ihren Spiegeln gesprochen
haben, mit ihren Spiegelbildern.

Zwei Vögel. Zwei Spiegel.

Inspiriert durch ein Gemälde mutieren die beiden Vögel zu einer kleinen Geschichte. Die Erzählerin spricht von der Voliere, davon, dass sie die Vögel herausnehmen musste, weil sie der geöffneten Käfigtür misstrauten. Die Rede ist von Freiheit, die erlernt werden muss, von Selbständigkeit und davon, wie man in Gesellschaft kommuniziert. Und es geht um das Ende, um den Verlust eines Partners, personifiziert durch das Erleben des Federviehs:

Wenn einer stirbt,
 bleibt der andere allein.
Man müsse einen zweiten kaufen. Du musst.
Das Alleinsein für den zurückgebliebenen wäre
schrecklich.
Füttern. Saubermachen. Füttern. Jahrelang.
Jahrzehnte. Es wäre ein Wunder, stürben beide
zugleich. Den Verlust eines Gefährten, einer
Gefährtin müsse man ersetzen.

(…)

Ich hätte sein Leid nicht gelindert, sage ich zu
Irina. Ich hätte ihn nicht besucht.

Querverweise, Analogien und zarte Symbolik sind typisch für die Lyrik und die Prosagedichte in diesem Buch. Annett Krendlesberger bedient sich mehrerer Ebenen, verknüpft diese miteinander und lässt gleichzeitig so viel Freiraum, dass Leser*innen in geradezu endlose Tiefen vorstoßen und sich ein eigenes Bild machen mögen.

Die Überleitung zur Kunst

Der Name Eva, den die Erzählerin gleich am Beginn der Kranken dezidiert zuordnet („Eva, ich werde sie Eva nennen“), ist eine Referenz auf die Skulptur „Eva“ von Teresa Feodorowna Ries von 1909, die in der Belvedere-Ausstellung zu sehen war. Doch was bedeutet dieser Name? Eva ist doch wohl der Urname der Frau, vertraut aus der biblischen Schöpfungsgeschichte, aber ein Wort, das laut Etymologen noch viel älter ist und in dieser Form sogar in sumerischen Schöpfungsmythen vorkommt.

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Die Kranke, die sich weder rühren noch sprechen kann und wortlos dahinsiecht, wird von den Worten, den in Worte gefassten Bildern der Erzählerin eingehüllt. Eine Frau, wohl am Ende ihres Lebens, vom anfänglichen Embryo in eine gekrümmte Embryonalhaltung zurückgekehrt, bedürftig und anspruchslos, still und womöglich gar nicht mehr empfänglich für den Wortreichtum, der ihr geboten wird. Die bildhafte Vermittlung der Worte mag auch eine Art Selbsttherapie der Erzählerin sein – Auslegungen dieser Art halte ich für absolut denkbar, da sie mich an (persönlich erlebte) Szenerien erinnern, bei denen eine Tochter oder ein Sohn wochenlang am Bett der sterbenden Mutter ausharrt.

Angesichts der Position der Kranken evoziert die Erzählerin Ries’ Skulptur, die ebenfalls mit angewinkelten Gliedmaßen auf der Seite liegt, und einen Ausstellungsbesuch, bei dem ein männlicher Besucher um dieses Kunstwerk herumstreicht, eine direkte Betrachtung aber eher vermeidet, womöglich von der hilfsbedürftigen Haltung der Marmorfrau in Verlegenheit gebracht wird.

und wie er ohne innezuhalten weitergeht, dicht
an ihr vorüber, mit gesenktem Kopf, nicht lesend,
keinen Katalog in Händen oder dergleichen (bist
es nicht wert, bist das nicht wert), unveränderten
Schritts, an der Leidenden vorüber, an einer
Kranken oder Verletzten, Bedürftigen, ja, als wäre
da eine, und er wär in der Pflicht, bedürftig sei
genau das richtige Wort, be-dürf-tig (du, du, sag’s!);
(…)

Verlegenheit als Reaktion auf die Daliegende, möglicherweise das Aufkommen eines Schuldgefühls. Die Zeit von 1900 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war keineswegs von Geschlechtergleichberechtigung oder Chancengleichheit geprägt. Die meisten Frauen waren von Männern abhängig, und jene, die sich künstlerisch freizuspielen vermochten, galten in der Gesellschaft als verdorben und schlecht. Ist diese längst vergangene Vorstellung transponierbar auf die heutige Zeit? Die Beschreibung des zögernden Besuchers scheint es anzudeuten.

Am Ende des Buches sind beispielhaft fünf der Ausstellungsexponate im Farbdruck abgebildet. Beispielhaft deshalb, weil nur bei diesen das Urheberrecht bereits abgelaufen ist und sie somit gemeinfrei sind. Alle Gemälde und Skulpturen, auf die Krendlesberger sich bezieht, sind jedoch im Anhang angeführt und eröffnen Interessierten die Möglichkeit weiterzuforschen. Kunstwerke von Frauen, die der Wiener Moderne zugerechnet werden, aber einer breiteren Öffentlichkeit meist kaum bekannt sind. Ein Tipp: Auch im Internet findet sich die eine oder andere Abbildung …


Annett Krendlesberger: DALIEGENDE. UNBEWEGT. Nachwort von Birgit Schwaner. fabrik.transit, Wien, 2023. 160 Seiten. Euro 22,–

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