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ICH KONNTE MEINE TOCHTER NICHT ERREICHEN.

ICH KONNTE MEINE TOCHTER NICHT ERREICHEN.

Thomas Kunst

»ICH KONNTE MEINE TOCHTER NICHT ERREICHEN.« So beginnt eines der Sonette aus Thomas Kunsts an lyrischen Formen vielgestaltigem Gedichtband und fährt fort: »Der Aufenthalt am Wasser war zu Ende, / Das Gitterbett stand leer, im Dorf die Strände / Bestanden nur aus Bänken und aus Eichen, // Zentraler Punkt nach Einsätzen, im Freien, / Die Feuerwehr besorgte Bier für jeden, / Die Jungen konnten mit den Alten reden. / Man konnte sich bei allen alles leihen.« Die nüchterne Feststellung des ersten Verses klingt nach in den scheinbar beliebigen Beobachtungen über Strände, die Feuerwehr und das menschlich freundliche Klima unter allen Anwesenden. Es sind diese Gegensätze oder vielleicht besser gesagt, es ist dieses Unvereinbare, das einander dennoch berührt und doch nicht ausgleicht, das diesem Gedicht dazu verhilft, ein Lebensparadox darzustellen. Unbeeindruckt von der Abwesenheit der Tochter geht das Leben in seiner ganz eigenen Tragikomik weiter: »Bezahlt wurde mit Eiern und Getränken. / Nie wieder werde ich von ihr was hören. / Ich konnte sie nicht mehr erreichen.« Und ohne Übergang wird die Abwesenheit der Tochter festgestellt. »Wenn ich was trinke, darf ich an sie denken, / Obwohl ich weiß, das dürfte sie empören. / Im Dorf die Strände suchen ihresgleichen.« Die Sehnsucht nach der Tochter scheint sich gerade im zurückhaltenden Ton auszudrücken, auf dem wie auf Messers Schneide semantisch-klangliche Schwebungen entstehen. Und erst der letzte Vers äußert sich als Metapher, »die Strände suchen ihresgleichen.«

Text von Michael Hammerschmid

Zitiert aus: Thomas Kunst: . Gedichte. Berlin: Suhrkamp Verlag 2024, S. 96.

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Thomas Kunst liest am 6. Mai 2024 um 20:30 beim Lyrikfestival „dichterloh“ in der Alten Schmiede.

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