Now Reading
Klagen einer heiteren Spielverderberin

Klagen einer heiteren Spielverderberin

Logo Besprechung

Lukas Meschik liest Bettina Balàkas Die glücklichen Kinder der Gegenwart


Der Titel von Bettina Balàkas neuem Band mit Gedichten und Kurzprosa ist gut gewählt, bietet er doch einen umfassenden Rundblick über Sinn und Unsinn des modernen Alltagslebens und einige zivilisatorische Baustellen. Es tummeln sich darin Menschen, die wie neugierige Kinder nicht die Finger von Dingen lassen können, die mit zunehmender Beschäftigung immer gefährlicher werden. Ob sie in diesem Treiben tatsächlich immer so glücklich sind, sei dahingestellt.

Balàka erweist sich hier jedenfalls als durchaus scharfsichtige Beobachterin und spitzzüngige Kommentatorin oder sogar Spielverderberin. Der Spielfeldrand war immer schon eine literarisch ergiebige Position – die Autorin verharrt aber nicht in der Rolle der Außenstehenden, sondern bringt sich selbst ins Spiel, wenn sie etwa ihr Misstrauen äußert gegenüber dem (eigenen) Selbstoptimierungswahn. Auf ihren Streifzügen entdeckt sie nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst.

Cover © Haymon Verlag

DAS GLÜCK DER WELT
haben wir uns nicht nehmen lassen

acht Euro fünfzig sagt das Kassengeräusch
das Rascheln der Börse sagt null
(…)
und da stehen wir mit all unserer Bildung
Belastbarkeit, Dynamik und Flexibilität
(…)

Leistung, Licht, Temperatur, Distanz, Lautstärke

Diese Bestandsaufnahme der Gegenwart gliedert sich in fünf Teile: „Pferdestärke“, „Candela“, „Fahrenheit“, „Seemeile“, „Phon“. Wir haben es also mit unterschiedlichen Maßeinheiten zu tun. Pferdestärke misst erbrachte Leistung. Die physikalische Einheit Candela quantifiziert die Lichtstärke (das Lesen von Literatur macht immer etwas klüger). Fahrenheit liefert uns bekanntlich eine Skala für die Temperatur, und die in der Seefahrt gebräuchliche Seemeile (oder nautische Meile) entspricht 1.852 Kilometern (etwa eine am Äquator gemessene Winkelminute). Phon schlussendlich ist eine Maßeinheit für Tonstärke.

Diese Einteilung erschließt sich einem vielleicht nicht auf den ersten, bestimmt aber auf den zweiten Blick. Leistung, Licht, Temperatur, Distanz, Lautstärke. Es handelt sich einerseits um all die Eindrücke und Reize, die permanent auf uns einprasseln, und andererseits um all die Verführungen zum Minderwertigkeitskomplex, sobald wir Rechnungen und Vergleiche anstellen. Balàka beschreibt eine Gegenwart, die besessen ist vom Messen in all seinen Ausprägungen: dem Abmessen, Ausmessen, Vermessen, Bemessen. Wer erbringt welche Leistung, wer schafft es höher, schneller, weiter? Wer strampelt noch im Hamsterrad, wer ist längst herausgefallen? Wir alle erkennen diese Gegenwart als unsere, und es spricht für die Autorin, dass sie nicht nur ihren subtilen Schrecken, sondern mindestens so sehr ihre bittere Ironie heraufbeschwört.

SIE HAT DIESES GESCHÄFTIGE
Familiäre
Haushaltsführende
Kinder müssen abgeholt
Tanten bekocht
Krisen abgewendet werden
immer ist jemand krank
oder verletzt
oder verwundbar
der Mann hat Firmenprobleme
der Exmann hat Frauenprobleme
die beste Freundin verkommt ohne Trost
und auch der Tod geht nicht vorüber
schon gar nicht spurlos

das Handy hilft beim Heraufbeschwören und
Dirigieren der Gewitter
(…)

Lassen wir uns diesen Zweizeiler genüsslich auf der Zunge zergehen: „das Handy hilft beim Heraufbeschwören und / Dirigieren der Gewitter“. Erst läuft man aus lauter Scham rot an, dann möchte man sein eigenes Handy sofort ertappt auf Flugmodus stellen. Besser und kompakter könnte man das Drama des modernen Menschen kaum beschreiben. Ist es nicht genau so, dass wir uns durch unsere geistlose Dauerkommunikation eben ständig in vermeidbare Verstrickungen befördern? Als wären wir eine lebendige Maschine zum Erzeugen hochwertiger Missverständnisse. Wir chatten uns um Kopf und Kragen. Und gleichzeitig brauchen wir das allzeit bereitliegende Smartphone dringend, um all die vermeintlich unaufschiebbaren Probleme jetzt und sofort aus der Ferne zu lösen. Das Handy ist ein Gift, das uns von genau den Beschwerden heilt, die wir uns bei der Vergiftung durch das Handy eingehandelt haben – der Teufelskreis der Digitalisierung. Jedes Zeitalter schafft seine eigenen Paradoxien.

Balàka zeigt ein feines Gespür für die leicht zu übersehenden (überfühlenden?) Zwischentöne des Zwischenmenschlichen. Die Gedichte der ersten drei Teile kommen ohne Titel aus, elegant wird hier einfach jeweils die erste Zeile in Kapitälchen gesetzt, was völlig ausreichend scheint. Der eigentliche Inhalt ist reichhaltig genug, es müssen hier durch zusätzliche Betitelung nicht noch ein Bruch oder ein Selbstkommentar eingefügt werden. Eine traumgeschulte Balàka beschreibt sprechende Träume: „Ich habe mich daran satt gedacht / wie du hineinzupassen wärest in / den Traum“. Später wird es beschreibender, und eine begeistert grantige Balàka moniert das Verschwinden einer Stadt, die ihre Geheimnisse am liebsten für sich behalten würde: „den Fischmarkt gibt es nicht mehr / aber es gibt die Twin-City-Liner-Schiffsstation / (…) / das Hotel Métropole gibt es nicht mehr / aber es gibt den Leopold-Figl-Hof“. In diesem Langgedicht namens „WIEN, SCHWEDENPLATZ“ schwingt sich die Autorin auf zu echten Höhenflügen der Ortserkundung mit gnadenloser historischer Einordnung.

See Also

(…)
am Donaukanal gibt es keine alten Brücken
sie wurden von der deutschen Wehrmacht gesprengt
auf dem Rückzug von der Roten Armee
in der Leopoldstadt fand die SS noch die Zeit
ein paar ganz zum Schluss noch entdeckte
Juden zu töten
(…)

Unvermittelter Wechsel zu Prosa

Inmitten des letzten und mit Abstand längsten Teils „Phon“ geschieht sehr unvermittelt der Wechsel zu Prosa, eine Zäsur, deren innere Logik einem das Buch vorenthält. Auch ein roter Faden innerhalb des Prosa-Abschnitts ist nicht leicht in die Finger zu kriegen, so reihen sich „Abweichungen von Shakespeare“ neben Reise-Miniaturen aus Istanbul und eine Auseinandersetzung mit Salzburg als Herkunftsort der Autorin: „Salzburg ist so klein, es passt in meine Herztasche: meine liebe, kleine Stadt“. Den Abschluss macht ein kurzer Text über einen Ausflug in die Natur auf den Spuren einer Zibetkatze.

Mögen die Prosastücke für sich genommen auch schlüssig sein, so wirken sie nach Abschluss der Lektüre im Gesamtbild doch als Fremdkörper nach. Am stärksten im Gedächtnis bleibt die hochverdichtete, alltagsnahe Lyrik, die oft schmerzhaft wahre Aussagen über unser Leben im ersten Drittel des einundzwanzigsten Jahrhunderts trifft. Auch Bettina Balàka hat sich ans Messen und Vermessen gemacht – mit den Mitteln der Sprache. Sich selbst, und damit uns, stellt sie angenehm unangenehme Fragen, etwa ob wir in einer Welt leben wollen oder sollen, in der es legitim scheint, etwas so Perverses wie „Urlaubsfähigkeit“ auszuloten. Zum Glück gibt es keine objektive Maßeinheit für die Qualität von Gedichten, aber Die glücklichen Kinder der Gegenwart wäre auf einer solchen imaginären Skala sehr weit oben anzusiedeln.

(…)
ich wollte, bevor ich sterbe
noch meine Persönlichkeit optimieren
erreichen, dass mich alle Menschen
in 90 Sekunden mögen
meine Glücks-, Leistungs-, Orgasmus- und
Urlaubsfähigkeit steigern

und jetzt ist meine super Seele verpufft
(…)

Bettina Balàka: Die glücklichen Kinder der Gegenwart. Gedichte und Kurzprosa. Haymon, Innsbruck, 2024. 160 Seiten. Euro 22,90

Scroll To Top