Klaus Ebner liest Isabella Krainers Heul doch!
Der Titel ist ein Aufschrei, die unverblümte Aufforderung, alles herauszulassen, was nicht passt, was gar seit Jahren schon verschluckt und hinuntergeschluckt wird. Das verbildlicht in perfekter Weise das Cover des Buches, kreiert von der Schweizer Illustratorin Lea Le. Auf der Grafik reißt eine Frau ihren Mund unnatürlich weit auf, um zu heulen oder zu schreien; doch was da herauskommt, ist ein Wolf oder, analog, eine Wölfin: gefletschte Zähne, bedrohlich aufgerissene Augen, und das Angst einflößende Heulen ebenso wie ein gefährliches Knurren können wir uns mühelos dazudenken.
Isabella Krainer wurde 1974 in Kärnten geboren und lebt in der Steiermark, wo sie auch als Kuratorin des Neumarkter Literaturfestivals 2024 tätig ist. Sie sammelte politische Erfahrung im Rahmen der Hochschülerschaft, was zweifellos ihr sozialpolitisches Engagement gefördert oder verstärkt hat.
Heul doch! ist ihr zweiter Gedichtband nach Vom Kaputtgehen (2020), beide erschienen im Limbus Verlag. In gewisser Weise knüpft das zweite an das erste Buch an; vom Kaputtgehen zum Heulen oder Herausschreien ist es wohl nur ein kleiner Schritt.
Cover © Limbus Lyrik
Die Autorin arbeitet mit freien Rhythmen in durchgehender Kleinschreibung, auf Satzzeichen verzichtet sie. Manche Gedichte sind ganz kurz; vor allem aber bleiben die Verse kurz, was sie gut und flüssig und dadurch oft einprägsam lesbar macht. Die meisten Texte sind in Standardsprache gehalten, einzelne aber dialektal. Hinsichtlich der Dialektgedichte soll Isabella Krainer gesagt haben, dass sie ganz aus dem Innern kommen und sich ungebremst ihren Weg nach außen bahnen, womit einem wieder das Bild der Wölfin einfällt, die aus dem Rachen springt. „i drah am radl“ vermengt den Dialekt unerwartet sogar mit einem bekannten englischen Liedzitat von Ava Max:
dass i spinn sogn sie dass i ibatreib dass des wos i sog nit sou sei kou oh, she’s sweet but a psycho (…)
Das Abtun legitimer Vorstellungen, das Lächerlichmachen einer Person, hier konkret: einer Frau, das Wegschauen und Ignorieren – solche Verhaltensweisen finden Widerhall in Krainers Gedichten. Sie sind schmerzhaft, manchen durchaus unverständlich, aber leider Realität. Die Autorin hält der Gesellschaft, die sich so verhält, einen Spiegel vor; sie prangert an, was ungerecht und daher nicht in Ordnung ist.
Frauenleben
In der Beschreibung des Verlages heißt es: „Aus kompromisslos feministischer Perspektive erleben wir Aspekte des weiblichen Lebens (…)“ Da geht es um kleine und große Unterdrückungen, vor allem aber um Verletzungen. Eine Passage aus dem Gedicht „in stücke“ lautet:
auf der haut ist kein platz mehr für uns zwei ist die zahl an der das scheitern gelernt wird
Beziehung oder besser: das Scheitern einer Beziehung nimmt breiten Raum ein, auch wenn Lesende in manchen Fällen zweimal hinschauen müssen. Aber Beziehungsprobleme und Trennungen lassen sich nicht nur mit Bitterkeit, sondern auch mit Schalk abhandeln. So etwa in „es bleibt kompliziert“:
sich nach der trennung fragen wer jetzt die seiten wechselt oder wenigstens die reifen
Selbstverständlich darf (und soll) bei Lyrik auch mal gelacht werden. Sogar bei ernsten Themen. Denn immerhin bleibt etwas, worüber wir gelacht haben, besser im Gedächtnis hängen. Diese Kombination von Humorvollem und Ernsthaftem hat Isabella Krainer bravourös im Griff und wendet es vielfältig an.
Einen tatsächlich sehr ernsten und aufgrund seiner Kürze überaus prägnanten Einzeiler finden Leser*innen unter dem Titel „nein!“:
das allein schon ein sprengsatz
Der Titel dieses Einzeilers verrät eine bewusste Anlehnung an die (feministische?) Aufklärungsarbeit, die rund um Bewegungen wie #MeToo geleistet wird. Dennoch ist dieses Gedicht überaus vielschichtig und ergibt in zahlreichen unterschiedlichen Situationen Sinn, die vom Privaten hin zum Beruflichen reichen. Und abgesehen davon, dass ein entschlossenes Nein in vielerlei Hinsicht wie ein „Sprengsatz“ wirken kann, ist es in manchen (oder vielen?) Fällen schlichtweg gesund für die Person, die es ausspricht.
Sprachleben
Den intelligenten und gewitzten Umgang mit Sprache, Worten und Redewendungen halte ich für das auffälligste Merkmal der Lyrik von Isabella Krainer. Das ist nicht nur „schmetterlingssprache“, sondern „kein wort mehr / schämt sich / für kleid und klang“ – beides aus dem Gedicht „seit dir“.
Redewendungen werden gezielt selektiert, ausgekostet und auf ihren Gehalt abgeklopft, sie werden zerlegt, gedehnt, gestaucht und verbogen. Bisweilen dreht der Tausch eines einzigen Buchstabens den Sinn um oder erweitert diesen beträchtlich. Geradezu auf die Spitze trieb die Autorin es in dem – wie im Titel angekündigt – verspielten Gedicht „spieltrieb“:
nichts war lamm als das hundschen noch gewolfen hat
Es ist tatsächlich eine Spitze, die sich womöglich erst bei mehrmaliger Lektüre zu erkennen gibt. Auf den ersten Blick wirkt der Text „falsch“, dann fällt die (inzwischen gewohnte) Anspielung auf den Wolf ins Auge, und spätestens jetzt will man es genau wissen, liest die Zeilen ein zweites und ein drittes Mal, denkt vielleicht darüber nach, wie diese Redewendungen ursprünglich lauten, woher die Wörter stammen und was einem nun alles in den Sinn kommt.
Ein ähnliches Spiel mit einer Redewendung finden wir in „nicht nur“:
in der not frisst der teufel bauern
Beim Lesen stellt sich sofort die Frage, wer mit dem „teufel“ gemeint ist. Der Text ist vielschichtig, und ich sehe da eine gut gefüllte Kandidatenliste. Jedenfalls geht es wieder um einen Missstand, um Ungerechtigkeiten, die in einer unbarmherzig kapitalistischen Welt weniger Megakonzerne auf der Tagesordnung stehen.
Die im Buch zu wiederholten Malen angeführte Wölfin heißt Virginia, und im gleichnamigen Gedicht, gleich das zweite im Buch, steht „sich allein / zur miete / großgezogen“. Die englische Autorin Virginia Woolf veröffentlichte 1929 ihren (feministischen) Essay „A Room for One’s Own“. Hier schließt sich gewissermaßen ein Kreis, der mir ein Schmunzeln auf den Mund zauberte.
Zum Auflachen reizt auch das kurze Gedicht „autorin außer betrieb“, das da wortspielerisch lautet:
hat sich krank geschrieben
Zum Glück hat sich Isabella Krainer nicht krankgeschrieben und legte diesen feinen Lyrikband vor. Das Nachwort von Robert Renk vermittelt zudem Einblicke, die bei der Lektüre helfen. Da eine Art inhaltliche Weiterentwicklung zwischen Krainers beiden Büchern zu beobachten ist, dürfen wir gespannt sein, wie es weitergeht …
Isabella Krainer: Heul doch!. Nachwort von Robert Renk. Limbus Verlag (Limbus Lyrik), Innsbruck–Wien 2024. 96 Seiten. Euro 15,–