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„Darf ich Sätze aufbrechen?“

„Darf ich Sätze aufbrechen?“

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Andreas Pavlic liest Mira Magdalena Sickingers FÜR EUCH VERGOSSEN


Ist die Sprache ausbruchsicher? Kann durch Poesie über die Grenzen der Sprache hinausstiegen werden? Mira Magdalena Sickinger geht diesen Fragen nach und verwandelt sie in Poesie – eine, die nicht verkitscht oder alles in Watte packt, sondern selbstbewusst auftritt und Kante zeigt.

„FÜR EUCH“ steht in großen pinken Lettern auf dem Cover. Darunter etwas kleiner – „VERGOSSEN“. „Das für euch und für alle vergossen wird“ lautet auch der Titel des ersten Gedichts. Auf dieses soll in der Folge etwas genauer eingegangen werden. Es zeigt gut die Arbeits- und Verfahrensweise der Autorin sowie die Stimmung und Spannung, die in ihren Texten immer wieder zu finden sind.

Cover © Klever Verlag

Das Gedicht beginnt in erzählerischem Tonfall und steigert sich rhythmisch zu einer Manifestation eines lyrischen Ichs. Das Blut, das zunächst hier vergossen wird oder einfach kommt, lässt an Menstruationsblut denken. Im Verlauf der Strophen verwandelt sich dieses Blut, es wird zu Saft, zu Salz und transformiert sich munter weiter. All diese Stoffe stehen in Verbindung mit einem bestimmten und bestimmenden Pronomen – „mein“: mein Blut, mein Saft. In der Folge wechselt der Fokus vom Besitz zum Attribut.

Der Zustand einer Handlung oder eines Gegenstands wird in knappen Satzellipsen aufgezählt und in seiner Kargheit ausgestellt. Die letzte Zeile führt wiederum zum anfänglichen Blut und auf eine religiöse Ebene. Da ist der Essigschwamm am Stab, den dem Johannes-Evangelium zufolge ein römischer Soldat Jesus am Kreuz an den Mund führt, und es ist ja auch Jesus, der bekanntlich sein Blut für alle Menschen vergossen hat.

Poetische Perspektive

Sickinger spielt. Zumindest scheint es so – sie spielt mit Ebenen, mit Verweisen, mit Bedeutungen und zeigt dadurch ihre Lust am Schreiben und an kräftigen Aussagen.

vor der kapelle
über den schotterweg
hinter dem hof meiner eltern
bitte ich, dass es ausbleibt
aber es kommt

mein blut auf terrazzo
mein verborgenes gärendes
blut unter der matratze
mein blut in einer schale pho

mein blut in seinem höschen
mein saft auf den pölstern
mein saft in euren mündern
mein saft ohne süße
das salz in meinen höhlen

(…)

die nässe des schrittes
der geschmack der geste
die nässe des essigschwammes am stab

Sickinger geht es, und das schreibt sie im Vorwort, das den Titel „wenn das unmögliche“ trägt, weder um eine wissenschaftlich akkurate Beschreibung der Welt noch um eine subjektive Weltschau oder Selbsterklärung. Das können Sachbücher, Ratgeber oder Tagebücher besser. Es geht ihr um eine „poetische perspektive“. Was ist diese poetische Perspektive? Oder vielmehr: Wie wird sie hergestellt? Es handelt sich dabei wohl um einen anderen Zugang zum Schreiben, Denken und Empfinden: kurz, um ein anderes Verfahren. Eine Art von Grenzüberschreitung, Grenzverschiebung, eine Selbsterweiterung. So, wie es die Autorin im letzten Text mit dem Titel „GLÜCKLICH, GLÜCKLICH“ in den ersten Zeilen beschreibt:

sprudeln
nach außen öffnen
vom einen zum anderen
überfließen anrufen zueinander

Dieses Bild beschreibt nicht nur Momente des Glücks, sondern es könnte auch als Moment gesehen werden, wo diese „poetische perspektive“ gelingt. Sickingers Texte wirken daher auch entsprechend intensiv, sie verwirren und sind gleichzeitig rhythmisch und klar. Im Vorwort geht sie der Frage nach: „darf ich sätze aufbrechen? kann ich eine sprache finden, die nicht beschreibt, sondern meine verwirrung, mein verlangen mitteilbar macht? ist das die poetische sprache?“ Ihre Antwort zeigt sie im Buch und führt sie anhand ihrer poetischen Sprache vor. Ihre Art des Schreibens erinnert an expressionistische Malerei und an architektonische Skizzen. Sie fordert einen schnellen und offenen Blick und zeigt, dass Poesie mit Melodien spielt, genauso wie mit Störgeräuschen. Diese Texte ummanteln und kleiden sich, um wiedererkannt zu werden. Sie verstören und irritieren. Die Autorin erklärt kein universales Wir, sondern berührt in einem intimen Gespräch, dem die Leser:innen Wort für Wort lauschen können. Was sonst noch auffällt?

Auffallend ist die sprachliche Genauigkeit. Eine feine Klinge, eine gewisse Schärfe, kleine Spitzen im Witz, ein Gespür für Brüche und für Dosierungen. Ein Wort, um etwa folgendes Gedicht zu charakterisieren, wäre „keck“.

See Also

dreimal in vintage Galliano kleide man sie
bete, dass sich ihre brüste
wieder aufrichten werden
ihre fruchtbarkeit erhalten bleibe

Chanel, BBL gebe man ihr
und nein keinen hund
den mann ohne eigenschaften
dosierte schmerzmittel

ausgedehnte spaziergänge
in markierten bereichen
Freud vor dem schlaf
für TV zu expressiv

Philosophie, Poesie und Musik

Sickinger ist Philosophin. Sie arbeitet zu Ludwig Wittgenstein und schrieb bisher vorwiegend philosophische Texte. Die Gedichte, die in dem Buch versammelt sind, entstanden in den letzten drei Jahren, teilweise wurden sie bereits in Literaturzeitschriften veröffentlicht. Ihre Arbeitsweise, so steht es auch auf dem Buchcover, bezeichnet sie als „Poesophie“. Es handelt sich dabei um ein philosophisches Denken in einer poetischen Sprache; um poetische Reflexionen über andere Texte, Autor:innen, Erfahrungen und Begegnungen; um Texte, changierend zwischen analytischer Philosophie und Kurznachrichten. Bei einer Buchpräsentation erzählte die Autorin, wie Texte, Gedanken und verschiedenste Inspirationsquellen zusammenflossen. Das nächste Gedicht zeigt dieses alltägliche Dickicht, das sich wohl im Leben aller bildet. Es zeigt die Zerstreutheit des Alltags, seine Verästelungen in Gedanken und Szenen, die schließlich in eine assoziative Überschreitung in Paul Celans „Stirnsplitter“ münden.

DENN ALLES FLEISCH IST WIE GRAS
weisheitspsalm

ich kauf am heimweg bei hofer
milch und zitrone wenn dir noch
etwas einfällt lass es mich
wissen ich liebe dich

nach 20 bahnen
den schraubverschluss
zur seite biegend
geht, an der
ecke marxgasse mit blick
auf den letzten stock
weit zurück geneigt
nach der letzten
stipendienablehnung schlagartig
der stirnsplitter über die grenze

Bei diesem Gedicht wird auch die Eigenart der Schreibweise der Autorin sichtbar. Die einzelnen Gedichttitel werden durchgehend in Versalien geschrieben, die musikalischen Verweise klein und kursiv. Im Text pflegt die Autorin ebenfalls weitgehend eine Kleinschreibung mit gezielten Ausnahmen. So wie das vorliegende Gedicht dem Psalm, dem „weisheitspsalm“, zugeordnet ist, orientieren sich alle Texte an musikalischen Formen. Insgesamt besteht der Band aus sechs musikalischen Zyklen, bei Benennung dieser wendet Sickinger sowohl die gängigen orthographischen Regeln der Groß- und Kleinschreibung als auch die Versalienschreibung an.

Den Beginn machen sieben „psalmen“, welche die titelgebende Bezeichnung „Für euch vergossen“ tragen. Anschließend versammelt sich die Gedichtserie „Mund und Saft“ unter dem Begriff „symphonie“. Die „blue notes“, die gar nicht so traurig und bluesig wirken, sondern eher etwas Frivoles und Boshaftes haben, finden sich unter dem Titel „So weit gehen, um zu treffen“. Zu dieser Reihe gehört auch das Gedicht „WIR BEMÜHEN UND WIRKLICH SEHR“, das aus einer Sammlung von Floskeln und Redewendungen besteht, die vielen aus Beziehungsstreitigkeiten wohl bekannt sind. Sie reichen vom vorwurfsvollen „hörst du dir eigentlich zu“ bis zum selbstgerechten „ich mache mir danach immer vorwürfe“.

Den Gedichten des „liederzyklus“ „CIAO W. CIAO“ sind Begriffe und Autor:innen beiseitegestellt. Die Referenzen reichen von „SCHWIMMEN, BACHMANN“ bis „EMPIRICAL REALIST, AYERS“. Den vorletzten Zyklus bilden die „lamentationen“. Die hier vereinten Texte klagen auf sehr unterschiedliche Weise und unterschiedlichen Ebenen, wie im Gedicht „FANPOST“, das sich an eine Person richtet, die „zu jung“, „zu schön“ usw. für „die abscheuliche analytische Philosophie“ ist. Den Abschluss der Zyklen, die voller offener und versteckter Verweise sind, bildet die Fuge bzw. „fuga“. Aus dieser Reihe sei abschließend noch das Gedicht „EPISTEL“ zitiert, dessen Ende offen bleibt, damit noch andere Wörter folgen können. Vielleicht in einem neuen Buch von Mira Magdalena Sickinger.

licht wiegt in deinem schoß
schwermut blüht in deinem geist
frucht spurt in deiner wäsche

theorie vertont
als kanon als hymne
unhörbar
aus deinem mund

andacht kniet dein leib
der erhabenen stimme

worte des ...

Mira Magdalena Sickinger: FÜR EUCH VERGOSSEN. POESOPHIE. Klever, Wien, 2024. 70 Seiten, Euro 20,–

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