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Evolutionsbedingte Bürde als Evokationslyrik

Evolutionsbedingte Bürde als Evokationslyrik

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Regina Hilber liest Hannah K Bründls Mother_s


um ehrlich zu sein: die natur will, dass ich mich fortpflanze

Hannah K Bründl hat mit Mother_s nicht nur ein zeitkritisches Pamphlet gegen gesellschaftliche Zwänge und Normativitäten innerhalb des Geschlechterdiskurses verfasst, sondern listet uns die Vielfalt von Geschlechteridentitäten auf. Den von Körper und Raum durchwirkten, sehr zeitgenössischen Duktus gestaltet die Autorin als additive Reihung.

Dabei stellt sie ein Personal aus der Popkultur und Populärgenderdebatte in jene FLINTA-Räume, in denen sich die FLINTA-Körper individuell entfalten dürfen. Dass jenes „Personal“ aus weiblich konnotierten Interpret:innen besteht, ist selbstredend.

Cover © Engeler Verlage

Die Lyrikerin Bründl verhilft realen Protagonist:innen zu einem FLINTA-Auftritt innerhalb einer exotisch anmutenden Kompilation. Die Bühne betreten: Rose Lokissim, hingerichtete Soldatin aus dem Tschad, die Deutsche Marianne Bachmeier, die den Mörder ihrer achtjährigen Tochter im Gerichtssaal erschoss, die Crow-Kriegerin Osh-Tisch (der Name bedeutet übersetzt: Findet sie und tötet sie), ein Boté1 der Crow-Nation, der mit männlichen Geschlechtsmerkmalen zur Welt kam, die Aktivistin und Dragqueen (später Transgender) Sylvia Rivera, vermengt mit unkonventionellen Frauenbiografien wie zum Beispiel den eineiigen Zwillingsschwestern June und Jennifer Gibbons.

Unter welchen Vorzeichen steht die gegenwärtige Geschlechter-Normativität, wie können F (female), L (lesbian), I (intersexual), N (non-binary), T (trans), A (agender) sich aus (Zwangs-)Mutterschaften befreien, evolutions- bzw. gesellschaftsbedingte Modi aufbrechen, ja spalten? Als Leserin komme ich nicht umhin, bei der Lektüre von Mother_s an Doris Lessings Die Kluft (im Original The Kleft) zu denken. Als Lessings Roman nach Erscheinen 2007 im deutschsprachigen Raum besprochen wurde, war vielfach diskutiert worden über jenes „Volk der Frauen“, die sog. „Spalten“.

Hosting, kein Hosting

Vom „Spalt“ innerhalb des individuellen Selbstfindungsprozesses bzw. den „Spalten“ als Geschlechtsmerkmal ist auch hier die Rede. Hannah K Bründl zerlegt die FLINTA-Körper in ihre Einzelteile, wiederkehrend verschränken sich Arme, Beine, Knochen, Augäpfel, um bald zerhackt, zerpflügt, zerlegt zu werden. Finger, Nägel graben sich in Wangen, Haut, Fleisch ein, um eine Transformation zur selbstgewählten Körperlichkeitswahrnehmung zu ermöglichen und, daraus resultierend, die neue, selbstbestimmte Geschlechterzuschreibung zu generieren, sollte eine solche intendiert werden. Jene unfreiwillige, aber in der Gesellschaft als gottgegeben titulierte „Gastgeberschaft“ des Frauenkörpers – der Frau, die zu menstruieren, zu gebären und klaglos sämtliche Schmerzen zu erdulden hat, die eine Gebärmutter im Stande ist zu evozieren – wird im eingeflochtenen Strang „_Hosting“ (hier in „1, getreide“) als Bürde, die keine sein sollte, deutlich:

der körper will wirt sein
(…)
in den körper krallen sich zellen
meine zehn gesichter / efeugeil
blicken sich um nach halt

ich fiebere
ich krampfe
ich krampfe

der körper will mutter sein

Muttersprache, mother tongue

Begleitet werden die einzelnen temporeichen Sequenzen vom durchgehenden Hauptzyklus „_Die Muttersprache“, der in Abschnitten einen Gebärvorgang (weniger einen Geburtsvorgang) in seiner ganzen physischen Brutalität beschreibt: ein Gemetzel. Auf diese Weise werden sämtliche Geburtsratgeberbücher mit ihren gutgemeinten wie absurd verlogenen Floskeln („Die Geburt ist der schönste Moment im Leben einer Frau“ oder „Frauen beschreiben die Austreibungsphase als intensivsten Orgasmus ihres Lebens“) im ohnehin trügerischen Moment der Ruhe vor dem Sturm eben nicht als Beruhigungspille verabreicht, sondern schlicht ad absurdum führt. Die Evolution, Gott, the fucking universe – unsere misogyne Gesellschaft, die allzu gefügige cis-Frauschaft halten fest am Märchen des freudigen Gebärens, der fröhlichen Mutterschaft. Hannah K Bründl schickt direktere Geburts(er)kenntnisse in den FLINTA-Raum, gebiert alternative Geschlechterzuschreibungen anhand des zuvor erwähnten Personals. Konventionell gedachtes, evolutionsbedingtes Hosting ist der Frauen Sache: nevermore!

Frauen, Mädchen und Babys zugedachte Rollenbilder werden prompt nach der Austreibungsphase in Frage gestellt:

See Also

ich hatte es wohl nicht besonders gut gemacht
ich hatte mich wohl zu wenig bemüht
ich hatte es wohl zu wenig hübsch gestaltet

das baby ist zu wenig hübsch geworden
ich hätte es schöner zur welt bringen sollen

Durch den quadratischen Gedichtband des im Engeler Verlag erschienen Labels roughbooks „roart“ in der Ausgabe 063 brachial das lyrische-Ich, einer Evokationslyrik gleich. Fraulich Vermischtes, Mütterliches ist alles andere als ein Garten Eden auf der persönlichen Suche nach Autonomie. Bründls Lyrik komponiert hier keinen eigenen Sound mit nach oben oder unten tanzenden Tönen, sie verharrt in der Evokation auf einer gleichbleibenden Ebene der Monotonie. Die Lyrik singt nicht, will nicht singen, aber riecht nach Übersee, während ein krankender Frauenkörper immer wieder an die Oberfläche taucht im mit Anglizismen durchsetzten Textkorpus, der am Ende möglicherweise nach Versöhnung ruft:

 _Nur im Atlantik sterben. anguilla anguilla 

(…) in der tiefe der see windet sich der aal, ist
fast ausgestorben der aal ist
fast ausgestorben, ich

lauf hinterher, laufe heim
laufe heim
und in der tiefe laicht der aal, presst den strömen seine eier

und in die tiefe den laich in 
den wellen kann er sterben, der aal
im atlantik sterben

nur im atlantik sterben
nur im atlantik

Der uneingeschränkte Impetus zur Authentizitäts- und Identitätsfindung, der Körper(text)tiefe sowie die gekonnt eingesetzte Klaviatur einer polyglotten mother tongue wissen an mancher Stelle das starre Prinzip, ausgelöst durch die Evokationsform mit ihren repetitiven Elementen, zu versöhnen. Mit der Tendenzlyrik von Mother_s hat Hannah K Bründl ein weit nachhallenderes Debüt geschaffen als so manche Dichterkolleg:innen vor ihr. Go for it!

1Aus thefemalesoldier.com: „Boté war ein Begriff der Crow, der sich auf eine Person bezog, die eine andere Geschlechtsidentität als das zugewiesene Geschlecht besaß, oder auf jemanden, der sowohl männliche als auch weibliche Merkmale in sich trug. Boté-Geschlechter wurden als getrennt von männlichem und weiblichem Geschlecht betrachtet und waren eigenständige Identitäten, ein in den Gesellschaften der amerikanischen Ureinwohner weit verbreitetes Konzept, das heute manchmal unter dem modernen Oberbegriff ,Two Spirit‘ zusammengefasst wird.“


Hannah K Bründl: Mother_s. roughbook 063, Engeler Verlage, Berlin, 2023. 84 Seiten. Euro 12,00

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