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Das Internet ausdrucken

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Lukas Meschik liest Clemens J. Setz’ Das All im eignen Fell


Das neue Buch des österreichischen Schriftstellers Clemens J. Setz ist kein Lyrikband im engeren Sinn, sondern eine sehr persönliche Auslotung der poetischen Möglichkeiten sozialer Medien, insbesondere von Twitter – als die auferlegte Zeichenbegrenzung noch den Spieltrieb weckte. Durchaus angereichert mit eigenen Gedichten, handelt es sich eigentlich um eine Mischung aus flott hingejazzter Literaturwissenschaft und selbst kuratierter Anthologie.

Der im großzügigen Format der Bibliothek Suhrkamp erschienene Band ist gleichermaßen unterhaltsam wie informativ, insgesamt ein großes Lesevergnügen – wobei man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass hier das Ausgangsmaterial, also die halblustigen Alltagsbeobachtungen irgendwelcher im Internet lebender Deutscher, viel weniger interessant sind als die davon abzweigenden Interpretationen und Assoziationen ihres Bewunderers.

Cover © Suhrkamp

Kurz gesagt: Was Setz über seine Twitter-Helden schreibt, ist immer interessant, die Tweets selbst sind es oft nicht. Als wacher und wendiger Geist hat Setz einen wunderschönen Rahmen gebastelt – das damit veredelte Bild wirkt im Vergleich etwas mau. Aber alles der Reihe nach.

Lieber Herr Nachbar . Entschuldigen Sie Das Ich Nicht
Ihre Zimmer Pflanzen Gegoßen . Habe Ich Hatte Noch
Eine Aktivität Gemacht
...
Ich Bin In Meiner Neuen Bienen Verkleidung Ud Weine,
Weil Ich Mir Vorgestellt Habe Nicht Zu Gewinnen

– Computerfan2001 

Das All im eignen Fell gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil lesen wir eine Auswahl von Setz’ eigenen Twittergedichten, die zwischen 2015 und 2022 entstanden sind. Funktionalität und (sich verändernde) Eigenheiten der Plattform dürfen wir als bekannt voraussetzen. In einem kurzen Vorwort erklärt der Autor, dass nicht zuletzt der Eigentümerwechsel zum durchgeknallten Multimilliardär und Real-Life-Tony-Stark Elon Musk samt Umbenennung in X den Ausschlag gab, rasch die Perlen aus dem Sumpf zu fischen, bevor durch Zwangsabschaltung ungenutzter Profile diese in einem kurzen Zeitraum aufblitzende Poesieproduktion verschwindet.

Reizvoll an der Zusammenstellung des ersten Teils ist die luzide Selbstkommentierung. Setz erklärt bei jedem Gedicht und jedem unfertigen Gedichtversuch, wie es dazu kam oder auf was es sich bezieht, gewährt damit kleine, nie unangenehm intime Einblicke ins Privatleben, weiht uns in Insiderwitze mit Freunden und Familie ein. Eigentlich eine Autobiografie in Twittergedichten.

LIEBESLIED

Ich wär dein Bud Spencer
du mein Terence Hill
so raufen wir uns durchs Leben

Und wenn die Welt
uns prügeln will
wird’s Schlägereien geben

Ich wär dein Bud Spencer
du mein Terence Hill
Wir stolpern durch schwingende Türen

In jedem Saloon
wird’s mucksmäuschenstill
wenn wir einander berühren

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Beim Wissen, dass der generationenprägenden „Bromance“ zwischen Bud Spencer und Terence Hill endlich auch ein lyrisches Denkmal gesetzt worden ist (pun intended), stellt sich große Erleichterung ein. Überhaupt sind die meisten der Texte auf der lustigen Seite, kleine Wortspiele und Verballhornungen, Weiterdichtungen unfreiwillig poetischer oder ulkiger Nachrichtenüberschriften, was der Logik des Mediums geschuldet ist. Wir reisen an obskure Nebenschauplätze des Weltgeschehens, sehen Screenshots von Körperteilen und Alltagsfunden samt daraus resultierendem Gedichteinfall.

Humor wird in der Literatur sträflich unterschätzt, jedenfalls in der ernstzunehmenden, dafür gibt es im deutschsprachigen Raum streng abgegrenzt den „Spaßbereich“, in dem sich die wilden Kinder austoben sollen – wo aber das Unlustige als lustig verkauft wird. Umgekehrt nehmen sich viele Literaten, gerade Lyriker, oft viel zu ernst, wie sie ihre vermeintlich tiefsinnigen Wortgruppen hintupfen, die nur peinliche Banalitäten reproduzieren. Setz steht für Entkrampfung und gedankliche Dehnübungen: „Macht euch mal locker“, sagt dieses unprätentiöse Mitdichten mit dem Alltag.

Dieser Haltung entstammte auch seine ursprüngliche Losung, Gedichte nicht mehr in Buchform, sondern ausschließlich auf Twitter veröffentlichen zu wollen – glücklicherweise wurde damit gebrochen. Da das Leben genauso aus Depressionen wie aus Hoppalas besteht, aus Lachflashs genauso wie aus Gewaltverbrechen, müssen beide Pole vorkommen, wo das Leben in seiner Fülle abgebildet werden soll.

Wie jedes Mal, wenn man Handybilder als Graustufenkästchen in Büchern sieht, stellt sich ein heiteres Unbehagen ein, weil hier das Internet ausgedruckt wird. Das klappt nie ganz, weil etwas immanent Flüchtiges seinem natürlichen Habitat entnommen und verewigt wird. Setz ist sich dessen bewusst und lädt uns ein zum spielerischen Versuch. Es geht hier auch um die große Frage, was von unseren digitalen Leben übrigbleiben wird.

Den kommentierten Briefwechsel zwischen Thomas Bernhard und Siegfried Unseld kann ich mir aus dem Regal ziehen, ob das bei Christian Kracht & Helge Malchow – Die E-Mails auch der Fall sein wird, ist fraglich. (Weitere Eskalationsstufen sind zum Zerkugeln: Juli Zeh & Simon Urban – Der Chatverlauf.) Das Einfrieren oder „Verbernsteinern“ des Momenthaften hat etwas tief Melancholisches, so wie Büchlein mit gesammelten WhatsApp-Messages nach einem Todesfall. Die ungreifbare Datenwolke reicht uns nicht, wir brauchen etwas in der Hand; als Menschen sind wir so.

Ich beginne das neue Jahr
meist am ersten Januar

Da sammle ich still für mich allein
Raketenhülsen vom Gehsteig ein

denn die intakteste Hülse werde
ich sorgsam pflanzen in die Erde

damit im nächsten Dezember dann
man neue Raketen ernten kann

Hoch gepitchte Angriffsschreie

Im zweiten Teil stellt uns Setz eine Handvoll Twitterpoet:innen vor, deren Output er begeistert mitverfolgte – all diese Profile sind weitgehend erloschen, nur wackere Bots posten noch verzweifelt gegen das Ende der Welt an. Versprochen wird uns eine „kurze Geschichte der Twitterpoesie“, allerdings liegt hier ein kleiner Etikettenschwindel vor. Um eine Geschichte im Sinne einer Chronologie handelt es sich nicht, wir erfahren weder etwas über die womöglichen Anfänge des Dichtens auf sozialen Medien, noch können wir die Abstammungslinien der einzelnen Strömungen und Trends nachvollziehen.

Tao Lin und seine gemeinsam mit Mira Gonzalez bereits 2015 veröffentlichten Selected Tweets finden ganz kurz Erwähnung, auch Jan Böhmermann und seine 2020 in Buchform gezwungenen, eher verzichtbaren Einlassungen. Wer eine nachvollziehbare, einordnende Abfolge erwartet, wird sie nicht bekommen – das macht aber nichts, das persönliche Best-of von Setz ist wahrscheinlich viel unterhaltsamer.

See Also

Die Begeisterung, mit der Setz uns seine Lieblingstwitterer vorstellt, ist rührend, allerdings wäre es gelogen, sie ansteckend zu nennen. Kurt Prödel etwa klingt so: „im weltraum es gibt so viele planeten manche bleiben / verborgen für jetzt & einige vermutlich auch für immer / muss aber jeder selber wissen“ oder „am besten nicht irgendwer sondern einfach alle raus aus / deutschland und große carrera bahn bauen mit loopings / aber muss jeder selber wissen“. Erinnert an Jandl, lässt aber jede Formstrenge vermissen.

@LunaticAbsturz, genannt Luni, macht folgendes: „Gerade so helle Licht gesehen in mein Küche größte / Erscheinung Jesus Christus kleiner Weltfürst jetzt Blitze / in mein Kopf wenn Augen zu lol“. Allein die bewusste Falschschreibweise nervt. Nicht jeder Schas ist automatisch mitteilenswert. Carla Kaspari wiederum produziert solche Sachen: „ein Jahr im Internet sind sieben Menschenjahre“ oder „das geräusch was mücken machen ist nichts als hoch / gepitchte angriffsschreie“. So weit, so Internet.

Es ist schön, dass es all das gibt, weil es in der Kunst immer besser ist, dass es etwas gibt, als dass es etwas nicht gibt. Was aber fast alle der hier vorgestellten Twitterpoet:innen gemeinsam haben: Sie haben einen einzelnen, sich rasch abnutzenden „Schmäh“; nach drei Tweets hat man’s gecheckt, nach zehn geht’s einem auf die Nerven, und hundert am Tag braucht man bestimmt nicht. Es sind menschliche Algorithmen, die eine Beobachtung oder einen prägnanten Einfall verwursten und mit ihrem Sound versehen. Den Beweis dafür erbringt Setz höchstpersönlich, wenn er spaßeshalber einen Stil nachmacht, also karikiert.

Kleiner Bot ganz groß

In seiner Ehrerbietung gehen ihm rasch die Superlative aus, erst spaziert „unser Rimbaud“ herein, dann gibt es den „großen epischen Geniewurf“ (über @Computerfan2001), „einzigartig unterhaltsame Genies“ tauchen auf, und eine „große Meisterin der Twitterpoesie“. Wenn man es nicht besser wüsste, dann müsste man annehmen, dass mit dem inflationären Gebrauch des Wortes „Genie“ entweder die Leserschaft oder die Angehimmelten getrollt werden sollen. Das ist auszuschließen, Setz schießt beim löblichen Ansinnen, ihnen ein Denkmal zu setzen, nur etwas übers Ziel hinaus. Wie angedeutet ist der Rahmen besser als das Bild. Wenn Setz über Gertrude Steins New Sentences philosophiert oder eine direkte Linie zum Vorsokratiker Empedokles zieht, dann ist das geistreich und gehaltvoll, eben gehaltvoller als „Wer Mit Dem Internet Auf Wächst Denkt, Der Denkt / „Ich Möchte Da Rein“ Aber Ich Sags’t Euch Leute / Es Ist Da Drin Eine Kleine Hunde Welt – Co“. Man fühlt sich an Dietmar Dath erinnert, dessen Bücher über Hegel und Marx genauso lesenswert sind wie jene über Superhelden, Stephen King und Miley Cyrus – weil Dietmar Dath lesenswert ist. Was ihm zu Miley Cyrus einfällt, ist interessanter als Miley Cyrus.

Clemens J. Setz bringt die Sache selbst auf den Punkt, wenn er beschreibt, wie im Feed die Poesiekapseln der Kolleg:innen nebenher laufen, als kleine Zündfunken des kreativen Feuers. Das All im eignen Fell hat seine Berechtigung, weil es eine Nische des Internets für die Nachwelt konserviert – und damit eine öffentlich zelebrierte Privatsprache. Die Lektüre führt allerdings nicht dazu, dass man aufspringt und unbedingt tausend weitere Absonderungen des Kochbuch-Bots lesen will. Viel spannender erscheint dafür etwa ein erwähnter Roman von Carla Kaspari, weil interessant ist, wofür all diese Twitterpoesie der wärmende Brutkasten war. Es sind formlose Vorstufen von etwas – und genau das wollen sie auch sein. Wie viel man mit diesen modernen Entsprechungen des automatischen Schreibens anfängt, wird sehr verschieden ausfallen – mit welchem Esprit Clemens J. Setz uns all das näherbringt, wird aber ganz bestimmt jeden erfreuen.


Clemens J. Setz: Das All im eignen Fell. Bibliothek Suhrkamp, Berlin, 2024. 192 Seiten. Euro 23,–

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