Martin Kubaczek liest Thomas Kunsts WÜ als Sommerlektüre
Stimmen im Hof. Warmes Licht aus den offenen, leeren Fenstern, jemand spricht leise, jemand raucht, ich sehe die roten Pünktchen auf den Balkonen. Aus den Fenstern hört man die Geräusche, Lachen, Husten, Weinen. Ich greife nach dem Stapel, meinem Notvorrat an Büchern, nehme wahllos das mit dem bunten Cover.
Klettere über die schwankende Leiter für den Rauchfangkehrer hoch, steige hinaus auf das gekieste Flachdach, rolle meine Biwakmatte aus. Schwül und schwer lastet die stickig-feuchte Luft über der Stadt, von Sternen nichts zu sehen. Ich hole das Buch hervor, im Licht der Stirnlampe sehe ich farbige Tupfen von goldenem Gras und Blumen, ein blauvioletter Horizontstreifen die Küstenlinie, ein rosa Wölkchen am Himmel und darunter in weißen kapitalen Blockbuchstaben: WÜ.
Ich blättere ein wenig, sehe Langgedichte im Flattersatz, oft über mehrere Seiten hin, versickernd und versiegend, kompakte kleine Vierzeiler, wie Quader, Meilensteine hingesetzt, und immer wieder unverkennbar das Sonett. Zeilen fallen mir auf, das fließt und flutscht, reimt nah am Ohr, ermutigt im kurios im Chaos der Katastrophennächte: „Die Tage gehen, wenn du frierst, von selbst vorbei (…) Der Februar folgt auf den Januar im Mai“.
Foto © Martin Kubaczek
Und dann der Schrecken: da ist die Rede von Tod und Pinguinen; von Mandarinenschalen und Sterben. Da findet sich ein trockenes Aushebeln von allem Metaphysischen, gegen die Gleichgültigkeit gesetzt ein Insistieren und Fortsetzen im Gedicht und seinem Weiterleben: „Mein Tod ist um, wir treffen uns bei Inge“, endet das eine, und das nächste setzt ein mit: „Mein Tod ist um, ihr könnt mich jetzt besuchen.“ Da wird kontrastiert, montiert, gestreut, gespielt, nüchtern provoziert und arrangiert in einer Partitur biographischer Scripts, technischer und pastoser Termini, schillernder Begrifflichkeit, die heraus poppt und wieder verschwindet, bizarre und lakonische Momente, schwere Empfindungen aus Kindheit und Familie, Trauma und Hoffnungen, die im Diminuendo auslaufen, offen bleiben: „Aber meine Schwester musste ja/ In den Kurven unbedingt/ Neben einem Geweih/ Sitzen“.
Das ist es also, das Leben, ein Selbstversuch, Learning by doing als Kind, als Bruder und als Partner, als Vater, ein zurückgelassen Sein. Zeilen kehren wieder als Motiv und Bild, werden fortgeführt, wieder aufgegriffen, finden sich refrainartig in Folgegedichten wieder „wir sind verschmerzbar, ohne es zu ahnen“, mal süß und bitter, mal lakonisch wird festgestellt: „Es sind noch Briefkästen im Dorf zu leeren“. Ein Gefühl von Vergeblichkeit driftet durch die Sprachmagie, oft als Abgesang auf eine verlorene Zeit, die eingeholt wird von einer befremdlichen Gegenwart, in der vieles irrelevant geworden scheint, aber das Metrum pflügt unbeirrt weiter in seinem stetigen rhythmischen Vers.
„… wenn Freunde sterben/ Geh ich Äpfel kaufen“, das klingt fast gesanglich, echot und wetterleuchtet durch die Zeilen, vernetzt und verknüpft die Texte, man kann anhand solcher Spuren Quergänge durch die Buchseiten finden, da und dort blitzt etwas auf wie ein mitgehörtes Wort aus unbekannten Gesprächen, und zunehmend arbeitet sich das untergründiges Motiv heraus: eine verlorene Tochter, die den Vater nicht mehr sehen will, ein pochender Lebensverlust im Abbruch jeder Kommunikation, das arbeitet sich durch im Geflecht des Alltags, der Empfindungs- und Verzweiflungsmomente, und es finden sich in einer Seite Anmerkungen die Musik aufgelistet, die „für mich beim Schreiben unabdingbar“ gewesen war; das beginnt bei Leonard Cohen-Songs und führt über anspruchsvollste zeitgenössische Kompositionen (Morton Feldmans Minimalismus), über Jazz und Improvisation (Pauline Oliveros mit ihrem „deep listening“), bis zur „Musique Pour Le Lever Du Jour“, dem trancehaften Klavierspiel eines Melaine Dalibert.
Auch ein Glossar findet sich da, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, leider lässt das Verzeichnis gerade bei mysteriösen Vokabeln aus, wie dem mehrmals auftauchenden „gerasimenkograu“, das mich zuerst an einen Pilz denken lässt, auch „girasoli“ klingen an, die sonnenblumenförmige gefüllte Pasta, gemeint sein dürfte aber (nach kurzer Internetrecherche) ein nach seinem russischen Entdecker benannter „kurzperiodischer“ (so der Fachterminus) Komet aus der Jupiter-Familie; wohl ein Relikt aus der Schulbildung in DDR-Zeiten, dem Autor biographisch noch erfahrbar; klanglich hat es etwas von einem toskanischen Timbre zwischen Ocker und Umbra, den Tönen der Renaissance-Gesänge eines Gesualdo (auch er kommt in diesem Buch vor).
Solche Assoziationen generieren üppig-sinnliche, lebensbejahende Momente in tief-trauriger Landschaft, sie machen diese bunt und sinnlich wie ein Patchwork, wie diese Gedichte insgesamt einem Verfahren des Unterschiebens, Unterlagerns entspringen: immer wieder tauchen überraschende Begrifflichkeiten in einer Kombinatorik auf, die logisch nicht rückübersetzbar ist; sie entspricht eher der semantischen Neu-Disponierung in der Farbgebung etwa vom „blauen Pferd“ eines Franz Marc, der „schwarzen Milch“ Celans, dem „härenen Weiher“ Trakls – Wirklichkeiten, die zu Stimmungsträgern werden und Atmosphären kreieren, die Kausalitäten aushebeln, und auf emotionale Zusammenhänge zu setzen, ohne sich mimetisch irgendwie anzupassen oder zu verlieren.
Was ist das Poetische an diesen Texten? Dass sie jegliche Übereinkunft stören, die kurzfristig hilft zu überleben, aber wahrnehmungsmäßig in den Sand fährt, mental bleiben wir da stecken. Raus holt uns dieser Spracheinsatz, kaleidoskopisch geschüttelt und verdichtet mit dem Lebenssatz, der Essenz aus Hoffnung und Schmerz, mittels kleinräumiger Eskapade, die sich dem kollektiven Eskapismus, der Verdrängung widersetzt, auch in eigener Tendenz, dem Genuss, den die Hingabe bereitet – oder einfach das Wunder, die Empfindungen beim Lutschen eines Eukalyptusbonbons, zwei Seiten lang, eindrücklich, damit setzt, während einer Autofahrt über Land, das erste Gedicht ein.
„Meine liebe Wü, ich bin so barbarisch müde, wären/ Wir nur endlich wieder von elementarer Dichtung/ Umgeben“ seufzt der Autor als lyrischer Sprecher nach einem Wochenende als Juror in einem der Gedichte an seine Katze, an die er sich regelmäßig wendet; sie ist es, die dem Band den Titel gibt, der anfangs verwirrend an KDW und Kaufhof denken lässt. Abseits von Konsum ist es hier die mal zähneknirschende, mal verblüffende, Leichtfüßigkeit und Faktizität der Worte, auch der bitteren, dieser treffsicheren alltagstauglichen Wortpfeile, die aufbrechen, durchlüften, splittern, nachfedern, sitzen.
Ich rolle meine Matte ein, steige auf die schwankende Leiter, ziehe die Blechluke über den Kopf zu, denke: Danke liebe WÜ, wir verdanken dir und deiner Geduld, mit der du dem Autor entgegenläufst und am Tor wartest auf ihn, viel. Und auf einmal denke ich, WÜ, das sind ja wir, die Lesenden. Unten im Nest, im Bett rolle ich mich dann ein, im dämmernden Hinüberdriften finde ich mich am Garagentor wieder, reibe mich an den Reimen, ihren eigenwilligen Brechungen, genieße schnurrend die Diesseitigkeit jeder iher Punktlandungen: „Der Kundendienst der Sterne ist veraltet./ Ich lösche keine Nummern, die sich zieren./ Es gibt Folklore und es gibt Gedichte.“
Thomas Kunst: WÜ. Gedichte. Suhrkamp 2024, 173 Seiten, Euro 24,-