Klaus Ebner liest Franz Dodels Nicht bei Trost. Sondagen
Nicht bei Trost lautet der Titel eines Gedichtes von Franz Dodel, eigentlich eines Endlosgedichtes, das seit über zwanzig Jahren geschrieben und laufend in mehreren Bänden unter demselben Titel herausgegeben wird. Der jeweilige Untertitel, in diesem Fall Sondagen, unterscheidet die Bände voneinander.
Nicht bei Trost. Sondagen enthält die Verse 42.001 bis 48.000. Begonnen hat Franz Dodel sein monumentales Werk 2002, und zwei Jahre später erschien der erste Band mit den ersten sechstausend Versen. Der vorliegende Band wird nicht der letzte sein, denn der Autor schreibt jeden Tag weitere Verse hinzu.
Cover © Edition Korrespondenzen
Franz Dodel wurde 1949 in Bern geboren und lebt heute in den Schweizer Orten Boll und Lugnorre. Er besuchte das Lehrerseminar und studierte Theologie, war danach als Fachreferent für Theologie und Religionswissenschaft an der Zentralbibliothek Bern beschäftigt. Seit 2012 ist er freischaffender Schriftsteller. Unter anderem erhielt er den Heinz-Weder-Preis für Lyrik 2003 sowie mehrere Literaturpreise des Kantons Bern. Dodels literarisches Schaffen besteht nahezu ausschließlich aus Lyrik, und Nicht bei Trost kann mit Fug und Recht als sein Hauptwerk bezeichnet werden.
Der Text in Nicht bei Trost ist nicht nur ein einziges Gedicht, sondern ein einziger Satz; Punkte und Kommata suchen Leser*innen vergeblich. Folgerichtig beginnt der Text, Vers 42.001, kleingeschrieben. Und ohne Punkt, obwohl inhaltlich am Schluss einer Phrase, endet der letzte Vers. Bei Vers 42.350 fand ich einen Abschnitt, der eine spürbare Ruhe vermittelt und das große Ganze gewissermaßen zu charakterisieren scheint:
eine Stimme noch tonlos ihre Runden schweift um die stillstehende Zeit
Alle hier wiedergegebenen Gedichtausschnitte ergeben sich aus den vorhergehenden Zeilen und setzen sich weiter fort.
Formen
Auf den ersten Blick öffnet sich ein kolossaler sprachlicher Bandwurm, dessen Glieder jeweils auf der rechten Seite des Dünndruckpapiers stehen. Die Verse sind kurz, doch nur wer genauer hinsieht und womöglich nachzählt, bemerkt, dass Franz Dodel einem ganz bestimmten Muster folgt. Alle Zeilen weisen nämlich abwechselnd einmal 5 und einmal 7 Silben auf. Dieses Schema hält der Autor über das gesamte Werk durch. Nicht von ungefähr trägt die erste Publikation den Subtitel Haikus, endlos, denn zwei Fünfsilber und ein mittiger Siebensilber zusammengenommen könnten ein Haiku darstellen. Natürlich sind diese aufgrund der Endlosstruktur beliebig herausnehmbar, lediglich der Duktus zusammenhängender Sätze bzw. Satzteile wäre zu beachten.
sich seines Daseins zu vergewissern so wie die Blumen manchmal nach einer frostigen Nacht sich zuversichtlich wieder aufrichten ihre Blüten öffnen und dem Licht entgegenstrecken «tal mi fec’ io di mia virtute stanca»
Der obige Ausschnitt, einigermaßen beliebig ausgewählt wie auch die folgenden, zeigt ein zweites Phänomen, das uns an vielen Stellen entgegentritt: Zitate bzw. Anspielungen auf literarische Werke oder andere Begebenheiten. Das hier genannte Zitat stammt aus Dantes Divina Commedia, und Dodel nutzt die linken Buchseiten, um entsprechende Hintergrundinformationen zu liefern. So finden wir genaue Quellenangaben zu den Zitaten, Erklärungen zu den Anspielungen und oft sogar Abbildungen, die einen Bezug zum Text haben. In Anlehnung an Hugo von Hofmannsthals „Chandos-Brief“ (1902) heißt es etwa:
Lord Chandos empfindet es als entzückendes unendliches Widerspiel ihm ist als könnte er jetzt hinüberfließen vom anderen zum einen und wieder zurück ob man sich der Wucht des Ganzen aussetzen soll das Einzelne wie berührt es ein Anderes dieses Verlangen Bestimmtes zu erreichen … es ist nicht einfach sich wiederzuerkennen
Intertextualität und Querverweise bieten durchaus Lesehilfen, doch indem Franz Dodel diese Textpassagen in ein gesamtes Großes einfügte, sind diese auch nicht mehr als kleine Zugangserleichterungen. Das „gesamte Große“ beziehe ich übrigens nicht nur auf die Form, sondern auch auf den angesprochenen Inhalt, der eine philosophische Tiefe verrät.
Beobachtungen
Der kreative Prozess hat etwas Tagebuchartiges an sich. Wenn der Autor tatsächlich jeden Tag an seinem umfangreichen Gedicht schreibt, dann ist das allein schon eine großartige Leistung. Den Text dann zu lesen ist gewiss nicht einfach, weil man sich verständlicherweise sehr leicht darin verlieren kann. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, und inhaltlich bewegt sich alles zwischen Beobachtung, Reflexion, die zumal in wissenschaftliche Bereiche vorstößt, literarischer Anleihe und Bezügen zu bestimmten Bildern wie Gemälden, Zeichnungen etc. Lesende sollten sich vom Fluss der Worte einfach mittreiben lassen; selbstverständlich gelangen sie dann auch zu den großen Themen der Menschheit und der Literatur:
über die Liebe weiß ich nicht mehr zu sagen mit «mille regretz» beginnt das Lied von Josquin und endet leise unbekümmert auf einem der kahlen Äste
Lyrisch Anmutendes überwiegt bei Weitem. Nicht bei Trost vermengt ein poetisches Gesamtgebilde mit profanen Einsprengseln, um die Leser*innen danach auf Pfade zu locken, die von akribischer Reflexion geprägt sind; jeder Gedanke fließt übergangslos in den folgenden. Der Theologe Dodel referenziert auch religiöses Gedankengut, doch scheint er sich insgesamt eher auf einer noch tieferen Ebene zu bewegen, auf einer transzendenten, die aus jener Gesamtheit schöpft, die vielleicht alles zusammenhält. Nachfolgend eine von vielen Passagen, die mich sehr beeindruckt haben:
Glanz eines kleinen schwarzen Knopfauges plötzlich bedeutet alles etwas in der Wirklichkeit die wir erfahren die sich entfaltet zwischen kleinem und großem O die Grenzen markieren im Mittelfeld jedoch liegt der Notizzettel auf dem Tisch: «Vergiss nicht die Vögel zu füttern» kaum je ist es still genug das Flügelgeräusch eines heranfliegenden Vogels zu hören oder gar die Schwingungen des einen Flügels von denen des anderen zu unterscheiden ich müsste vermehrt auf das mikrotonale System im eigenen Leib hören und zugleich daran glauben dass etwas zu sein weniger Glut entfacht als nichts zu sein
Es wäre schön, dieses Buch – und noch viel mehr: das gesamte Gedicht von Anfang an, in einem Zug genießen zu können. Zwar gab es schon Gesamtlesungen über mehrere Tage, doch leider kann sich der menschliche Geist nicht so lange konzentrieren. So bleibt uns nur, den Text in Häppchen zu konsumieren, die immerhin frei wählbar sind.
Ein einziges großes Gedicht zu schreiben, ohne Punkt und Komma, aber unter Beibehaltung einer einheitlichen Struktur, und das über viele Jahre hinweg, ist ein einzigartiges lyrisches Vorhaben, das mir in dieser Form außer beim Schweizer Autor Dodel noch nie untergekommen ist. Allein diese Idee halte ich für großartig, und dass sie schon so lange durchgehalten wird, für bewundernswert. Edition Korrespondenzen sorgte für eine feine, ästhetische Umsetzung, und der Preis von 33 Euro ist für die sechshundert Seiten allemal gerechtfertigt.
Franz Dodel: Nicht bei Trost. Sondagen. Mit Illustrationen von Serafine Frey. Edition Korrespondenzen, Wien, 2024. 608 Seiten. Euro 33,–
Franz Dodel liest bei der Poesiegalerie am Donnerstag, den 14.11. 2024 um 21:05.