Lukas Meschik liest Ulrich Kochs LETZTE HILFE KURS
Der 1966 in Winsen an der Luhe geborene und heute in Hamburg lebende Lyriker Ulrich Koch veröffentlicht mit LETZTE HILFE KURS einen umfangreichen Gedichtband, der sich mit heiterem Ernst der dunkelsten und bittersten Themen annimmt.
Seine oft um Tod und Vergänglichkeit kreisenden Texten kommen erstaunlich leicht daher, entwickeln aber gerade in der Summe eine wohlige Schwere – dass man aus der Lektüre nicht bedrückt, sondern beflügelt hervorgeht, dass sie auf erbauliche Weise nachdenklich macht, ist Ausdruck großer Könnerschaft.
Cover © Jung und Jung Verlag
Der mit über 170 Seiten vergleichsweise üppige Band gliedert sich in sieben Teile: „Im Totholz sonnen sich Pilze auf dem Höhepunkt ihrer Macht“; „Der Tod ist ein eckiger Kreis“; „Alles Vergängliche waren Pechsträhnen und Wehen“; „Der Angst hängt noch ein Stück Seele aus dem Maul“; „Wir wussten nichts von der Unsterblichkeit der Tage Anfang Januar“; „Wie wir in den Garten stürmten, um alles zu retten“ und „Ich glaube, du hast die Welt durch den Ausgang betreten“.
Allein anhand dieser Kapitelnamen erkennen wir den inhaltlichen roten Faden, der sich durchzieht. Der Tod ist dauerhaft präsent, tritt in mannigfaltigen Erscheinungen und Verkleidungen auf, mal begegnet er uns als „schöne Witwe“, dann wieder als „Friedhofsbesucher“, markante Schauplätze sind Krankenhaus und Hospiz – nie als Orte reiner Niedergeschlagenheit und Perspektivlosigkeit, sondern als Kulissen für lebenssatte Szenen fein wahrgenommener Verschiebungen und Erschütterungen.
DIE KLINIKEN Die Kliniken haben nachts umsonst geleuchtet. Ich werde sterben. Ich weiß nur noch nicht, wo und zu welcher Uhrzeit. Am liebsten auf der Datumsgrenze, dann geht die Trauer voraus. Den Nachruf auf mich habe ich schon vor Jahren geschrieben. Es war ein gereimter Vierzeiler mit einem selbstgemalten Bild zum Dreißigjährigen meiner Mutter. Aber noch stehe ich am Fenster und beobachte den Rettungshubschrauber. Er landet auf dem Dach wie in einem Nest. Menschen in Weiß flattern heraus.
Great minds think alike
Es existiert ein Buch mit beinah demselben Titel, nämlich das Sachbuch Letzte-Hilfe-Kurs: Weil der Tod ein Thema ist des ehemaligen Bestatters und nunmehrigen Notfallpsychologen Martin Prein, in dem er unseren tabubehafteten Umgang mit dem Tod reflektiert und konkrete Hilfestellungen zu Totenbeschau und Trauerarbeit gibt (Die eingefügten Bindestriche machen hier den subtilen Unterschied). Ich kenne es gut, habe es erst unlängst wegen eines Todesfalls in der Familie zum zweiten Mal gelesen. „Great minds think alike“ denkt man amüsiert, weil nicht nur Prein, sondern jetzt auch Koch auf die schelmische Umkehrung des allgegenwärtigen Erste-Hilfe-Kurses kam.
Es ist ein naheliegender Gedanke, dass wir als Menschen nicht nur (medizinische) Methoden der Todesabwehr benötigen, sondern eben auch Handreichungen beim Umgang mit dem, was nicht mehr abwendbar ist. Die rein physische und praktische Dimension reicht nicht aus, Trost und Erbauung gibt es vielleicht noch aus der Psychologie, aber das Unverstehliche abbilden und damit bannen kann nur die Kunst; wo das Verstehen nicht mehr greift, schlägt die Stunde der schöpferischen Kraft.
Kochs Lyrik ist also nicht nur dem Titel nach ein Komplementärwerk zu Preins Krisenratgeber. Seine Sinne sind geschärft bis an die Grenzen des Erträglichen – die er mit den Mitteln der Sprache auslotet. Wir lesen vom „Pingpong der Einweisungen und Entlassungen“ oder von Paaren, die fürchten, „in der falschen Reihenfolge zu sterben“, im titelgebenden Gedicht hängt der Angst „noch ein Stück Seele aus dem Maul“. Nicht nur vereinzelt, sondern durchgehend findet Koch sprachliche Entsprechungen für komplexe Empfindungen, verschriftlicht gekonnt das Unaussprechliche.
FRIEDHOFSBESUCHER Außerirdische, die festgetretene Oberfläche des fremden Planeten nach Leben absuchend. Nachkommen mit unverständlichem Gemurmel, Überlebende mit leisen Schritten auf dem Kies. Tiere, die bei Einbruch der Dunkelheit einen Schlafplatz suchen.
The Upside Down
In der US-amerikanischen Netflix-Hitserie Stranger Things gibt es eine Paralleldimension namens Upside Down. Wer durch ein Portal in diese Spiegelwelt schlüpft, der wandelt durch dieselben Straßen wie zuvor, erkennt sogar vertraute Gesichter, nur kann er nicht mit ihnen in Kontakt treten. Alles ist verdüstert, zeigt sich von seiner finstersten Seite, bleibt in einen undurchdringlichen Schleier gehüllt.
Auch Koch entführt uns in seinem LETZTE HILFE KURS in so ein Upside Down, aus dem aber freier zwischen den Sphären gewechselt werden kann. Im beschleunigten Alltagsgeschehen blenden wir schmerzhafte Fragen wie jene nach unserem Lebensende aus – allein schon als Überlebensstrategie. Diese vermeintliche Normalität ist eigentlich die Traumwelt, aus der wir in existenziellen Momenten unsanft herausgerissen werden. Koch nimmt uns behutsam die rosarote Brille unserer Lebenslügen ab und erlaubt uns Blicke durch seine morbide Schablone ernüchternder Weltwahrnehmung.
(…) Ich? Im um sich selbst kreisenden Gedicht kehre ich in allen meinen Gedichten als mein trauriger alter weißer Lieblingsdichter zurück und lebe zurückgezogen im Baumhaus meines Körpers auf Höhe der Gräser im Sommer. Der Sommer war ewig. Windselig segeln die Blätter. (...)
Koch wandelt auf dem schmalen Grat, Vergänglichkeit weder romantisch zu verklären noch ein grabestiefes Depressionsloch zu schaufeln. Zwischendurch lenkt er den Blick auf rührende Nebenschauplätze und leicht zu übersehende magische Alltagsmomente. Wenn Koch das Auffinden und „Aufpäppeln“ einer „verletzten“ Roboterdrohne am Wegrand beschreibt oder in einem leidigen Zoom-Call das „Medusenhaupt der Videokonferenz“ erkennt, „aus zwei Dutzend Köpfen, unausgeschlafen, abgeschlagen“, dann beweist er einen Spürsinn für das Poetische im Banalen, wie es ihn nur selten gibt.
Dieser LETZTE HILFE KURS gibt jedem Anleitung, mit offenen Augen und gespitzten Ohren unterwegs zu sein und macht gerade in seiner nichts beschönigenden Todesnähe Lust auf ein Leben, das einem alles abverlangt und nichts vorenthält. Mit feiner Ironie entdüstert Koch die Vergänglichkeit, ohne ihr etwas von ihrem Schrecken zu nehmen. Mehr Hilfe kann Lyrik nicht leisten.
(…) Schlafe viel und schreibe wenig! Gott ist tot. Gott hab ihn selig.
Ulrich Koch: LETZTE HILFE KURS. Gedichte. Jung und Jung, Salzburg, 2024. 176 Seiten. Euro 24,–