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wir sind sterblich

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Alexander Kluy liest Udo Kawassers tarquinia. gespräche mit schatten


Krypten. Ossuarien. Unterwelten. Das ist das andere Gesicht der italienischen Stadt Neapel, ihr Janus-Part. Gebeine, Totengassen, unterirdische Beisetzungsstätten, eine città dei morti, findet man nämlich unterhalb ihrer Straßen und Gassen. Dieser subterranen Szenerie widmete vor einigen Jahren Ulrich van Loyen eine ethnologisch wie anthropologisch aufschlussreiche Monografie. Diese war wissenschaftlicher Rapport wie recht lebendiger Bericht über die Lebenden zwischen Bagnoli und Posilippo, Scampia und Barra und über die Toten, deren Gebeine einst, vor Jahrhunderten, unterirdisch akkumuliert wurden.

320 Kilometer nördlich von Neapel liegt eine andere Stadt der Toten, Tarquinia, 87 km nordwestlich von Rom, 48 km südwestlich von Viterbo, 90 km südöstlich von Grosseto. Die Altstadt thront auf einem Hügelplateau und ist erwartbar eng, krumm, pittoresk. Gelegen ist das Städtchen an der Strada Statale SS 1 Via Aurelia, deren Name auf die Römer verweist. Doch vor diesen war der Ort für die etruskische Kultur essenziell.

Sehen und entdecken

In sechs Canti, Gesängen, erforscht Udo Kawasser Tarquinia und dazu Tarquinias Nekropole, Grabstätte hochrangiger wie vornehmer Etrusker, jener Ethnie, deren Historie immer noch im Fünfsechsteldunkel liegt. Er erkundet reale Ober- und irreale unterirdische Stadt – und ist weniger als T. S. Eliot in seinem Langgedicht „The Waste Land“ (1922) überrascht, wie viele der Tod dahingerafft hat.

Kawasser wählt die Kategorien „ocker“, „kreide“, „rost“, „kohle“, „umbra“ und „lapislazuli“ als materielle Leitmotive. Immer wieder anders kaleidoskopiert er diese unterschiedlich reaktiv und arrangiert sie zu thematischen Blöcken.

Cover © Limbus Verlag

Bereits auf der ersten, vor „canto I“ geschalteten Doppelseite, die auf die Motti folgt, von denen eines von Peter Sloterdijk stammt, das zweite, sinnig entscheidender, vom römischen Naturphilosophen Lukrez, ist nicht zu übersehen, was das Poem auf den folgenden Seiten ausmachen wird. Da sieht – es stellt sich dann umblätternd als digital bearbeitete Seite des Poem-Auftakts heraus – man einen Teil des Ortsnamens, aquarelliert auf Text, in dem Verwandtschaft sich mit Fahrt abwechselt, Fahrt mit Begreifen, Einfahrt und Ankommen mit Wiedersehen. Sehen trifft auf Entdecken. Entdecken wird mittels einer anderen Art des Eintreffens inszeniert, nicht wie das Ezra Pound einst im ersten Canto seiner Cantos tat, archaisch mittels eines großen Schiffs, dessen Segel sich im Wind bauscht, sondern mit der Eisenbahn (wobei ganz prosaisch eine Zugverbindung in Roms Stazione Termini verpasst wird). So ist der Auftakt nicht gar so pathetisch, dafür ähnlich rhythmisch ausgeklügelt in Tarquinia und in tarquinia,

wo die schienen
eine schneise
durch sedimentierte schichten
von stadt ziehen.

Doch ins Wissen um diesen Ort als Nicht-Ort der prachtvoll vor Jahrtausenden Bestatteten drängen sich die Gegenwart, die Erinnerung an ein Du und die Sehnsucht nach diesem lebenden Menschen, die Ambivalenz des Wiedersehens. In der zweiten Sektion, „kreide“, schiebt sich der Wunsch nach Bewegung, Motorik und sinnlichem Körperleben in den Vordergrund. Die folgende Sektion „rost“ setzt sinnlich-akustisch ein mit einem Schlüssel im Schloss, den man sich schön patiniert vorstellen kann. Der licht im Licht flirrende Staub verführt zu animierten Metaphern, zu in Worte überführten Schmetterlingsflügeln, Eidechsen, zu Fliege, Grille und Hummel.

In die Tiefe und in Schwärze geleitet naheliegender Weise wie in weitergeführter melodischer Lakonik „kohle“. Darin geht es zu Schächten, zu dunklem Ort, traumlosem Schlaf und der träumerischen Erinnerung an einen vergangenen Liebes-Februar. Die Blöcke „umbra“ und „lapislazuli“ führen anschließend in den neu angebrochenen Tag hinein.

In den folgenden Canti wird es dann sensitiver, im Wortsinn hautnaher, körperlicher. Es geht um Augenblick und Verfall, um Räume ohne Körper, um Nähe und Vergehen:

wir sind sterblich
weil wir durchs licht
zu gehen vermögen
das uns im rhythmus
fortwährenden fallens 
auf den weg bringt.

Mikroskopisch vergrößerte Sinneswahrnehmungen falten sich auf und schließen sich in eindrücklichen Wortsequenzen, die an keiner Stelle durch Abstraktion neutralisiert werden. Stattdessen geht es warm zu, lebenszugewandt, konzentriert dem Diesseits sich widmend. Dabei treten auch Irritationen auf, Störsignale der Gegenwart queren das scheinbar zeitenthobene Naturidyll.

Es folgt der Abstieg in die „tomba dei baccanti“, in die unterirdische, nach Moder und Schimmel riechende Totenstadt, die so lebendig ausgemalt und epikureisch das Leben feiernd geschmückt wurde.

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Der Tod und das Leben

Von dichten Konkreta ausgehend, dem Blick auf und übers Meer, einem Bahndamm, dem Gleiten einer Flasche im Altglascontainer bis zum hörbaren Zerschellen auf dem Containerboden, verwebt Kawasser in konsequent durchgehaltener Kleinschreibung Reflektionen über Vergehen, Endlichkeit und Tod feinsinnig miteinander. So fragt er an einer Stelle:

wenn leben heißt
schatten zu werfen
ist der tod
dann dort
wo man
keine schatten
mehr wirft

Dem Band gaben Autor und Verlag Rorschach-Bilder mit, die vierfarbig tänzerisch korrespondierend die Grundfarben aufnehmen. Verweisen sie literaturhistorisch nicht – via Peter Rühmkorf („der Klecks will dem Auge sich reimen“) – auf den württembergischen romantischen Dichter und Arzt Justinus Kerner, der in späteren Lebensjahren, in denen er nach und nach erblindete, sich stark für Spiritismus wie für Okkultismus zu interessieren begann, und auf dessen „Kleksographien“, die er – wie passend! – zu „Hadesbildern“ zusammenführte? Infolge dieser spezifisch spielerischen Technik würden, so Kerner, „kraft ihrer Doppelbildung, die sie durch ihr Zerfließen und Abdruck auf dem einen Raume der anderen Seite (…) erhalten, der Phantasie Spielraum lassende Gebilde der verschiedensten Art“ entstehen. Dieser Befund gilt gleichermaßen für tarquinia und für die visuell-haptischen Qualitäten des großzügig gestalteten Bandes.

Dialektisch nimmt Kawasser dies poetisch ähnlich auf; und doch recht anders in seinem invertierten Schattentheater, in dem die Toten den Lebenden zusehen, die ihrerseits wieder Vögel zuschauen – und alles vollzieht sich unter den Auspizien des zeitlichen Begrenztseins im Physischen, das einzig die Künste, erkenntnistheoretisch am stärksten das Dichten, wenn auch nicht aufhalten, so doch umgehen können:

die musik und der tanz
an den grabwänden
verlangen
dass wir hier
antworten auf armut
und leiden geben
was erde ist
erfahre ich nicht
wenn ich selbst
erde bin

Im Finale findet er starke Formulierungen für die Verortung im Hier, im Jetzt, im Akzeptieren einer Ding-Welt, die so ist, wie sie ist, wenn man sie so sensuell-plastisch ergreift, wie es in diesem Band, der „causa tarquinia“, der Fall ist. Der Franzose Francis Ponge, einer der großen Prosapoeten der Dinge dieser Welt, brachte einmal den Gedanken zu Papier, dass es gerade der Tod sei, in welchem der Mensch zeige, ob er es wert war zu leben. Bei Udo Kawasser kommt die Menschenzeit vor dem Verlöschen zu ihrem großen poetischen Anrecht.


Udo Kawasser: tarquinia. gespräche mit schatten. Mit Illustrationen des Autors. Limbus Verlag, Innsbruck–Wien, 2024. 96 Seiten. Euro 15,–

Der Autor liest am Sa, dem 16.11. um 21:20 Uhr aus dem Buch in der POESIEGALERIE.

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