Kirstin Breitenfellner liest Anne Marie Pirchers Aria
Anne Marie Pirchers Gedichtband Aria beginnt mit dem Wort „Kapitulation“. Man denkt das Wort „Krieg“, das im Gedicht auch tatsächlich auftaucht, auch wenn dieses anscheinend nur von einem Blatt handelt, das im Herbst vom Baum fällt.
Kapitulation Mein Blatt hielt lange stand: am Arm des Nussbaums zwischen Tanz und Kampf Jeder Morgen begann auf eine Weise die Zweisamkeit versprach in der Hoffnung auf Frieden oder zumindest Krieg Nun ist die Stille dort wo einst ein Messer die Luft zerschnitt Das Blatt ein Fall für die Erde.
Kann man „auf Frieden oder zumindest Krieg hoffen“? Im landläufigen Sprachgebrauch, der Logik des gesunden Menschenverstands, bestimmt nicht.
Anne Marie Pircher wurde 1964 geboren und lebt bei Meran, nach eigenen Aussagen in der „kleinsten Gemeinde Südtirols“. Aria ist Pirchers dritter Lyrikband, zuletzt erschien der Roman Iris & Pupille (2022). Warum sie nach Ausflügen in die Prosa zur Lyrik zurückgekehrt sei, wurde Pircher kürzlich von der Südtiroler Tageszeitung „Dolomiten“ gefragt. Pircher erzählte, dass sie sich davon nicht nur Erholung von der Prosa erhofft habe, sondern auch die Möglichkeit, „mental einer von Krisen geschüttelten Zeit ein wenig zu entkommen“.
Cover © edition laurin
Wobei sie freimütig gestand, dass das nur zum Teil gelungen sei. Eines steht fest: Bei der Wortwahl „zum Teil“ handelt es sich um einen Euphemismus.
Denn in Wahrheit versucht sich Pircher in der selbstgewählten Einschicht nicht vor der Welt zu verstecken, sondern sie braucht diese – den Garten, die Pflanzen, die Vögel und die Berge – als eine Art Schutzwall: um von dort aus genauer hinsehen zu können.
Aria bedeutet auf Italienisch Luft. Der Band ist Pirchers im vorigen Jahr verstorbener Mutter gewidmet, bei deren letzten Atemzügen die Tochter anwesend war. „Wir alle brauchen Luft, nicht nur im physikalisch-biologischen Sinn“, sagt sie im Interview. Das Bild, wie ihre Mutter in Pirchers Kindheit am Meer gestanden sei und in die Weite geblickt habe, als suche sie da draußen etwas, sei in ihrem Kopf hängen geblieben. „In den Gedichten spüre ich ihrer und damit auch meiner eigenen weiblichen Tragik nach und setze sie in Relation zu den großen Tragödien unserer Zeit.“
Tatsächlich findet man die verstorbene Mutter, wenn, dann nur verschlüsselt in den Texten. Die politische Großlage hingegen drängt sich mit dem knallenden Wort „Krieg“ alle paar Seiten in die Gedichte.
Das Paradox von Leben und Krieg
Das Paradox spielt in Aria eine tragende Rolle. Beginnend mit dem erhofften Frieden, der auch als Krieg akzeptiert zu werden scheint, was natürlich nicht der Fall ist. In anderen Texten werden Tage zu Ende gedacht, bevor sie begonnen haben, wird das Selbst weggeschickt, weil das Ich eine andere ist, geht es dem Ich so gut, dass es nie mehr leben will.
„Kind of war“ heißt der zweite Gedichttitel. Man liest neben dem – auf Englisch – kein tatsächlicher Krieg seienden Krieg auch ein deutsches „Kind“ des Krieges mit. Die vierte Strophe lautet:
Sah mich und mich, ertrug weder Gesetz noch Licht es war nicht Geburt, es war Tod und doch Leben: eine Art: Krieg zwischen mir und mir
Der Krieg, lernt man, findet auch in der Person selbst statt. Und das Leben, die Natur bedeuten ebenfalls Krieg. In dem Gedicht „Blues“ etwa geht es um den „Krieg zweier Hummeln“. Am Schluss von „Kind of war“ nimmt sich das lyrische Ich jedenfalls „eine Handvoll Munition / aus Wind und Gras“. Denn die Natur ist hier in der Doppelbedeutung des griechischen „pharmakon“ sowohl Gift auch Gegengift zum Krieg. Die Natur ist Anne Marie Pirchers Waffe, dem Krieg standzuhalten.
Im Gedicht „Reptil“ zieht sie sich sozusagen in einen Panzer, eine archaische Hülle, geschützt von Schuppen, zurück. „Wer träumt sagt man / hat eine zweite Welt / in der Faust“. Das lyrische Ich träumt Tode, „die sich ihren Teil / holen, nach und nach / Leichenstücke für / Mauerritzen, Erdlöcher“. Und weiter heißt es:
Die zweite Welt erhebt sich hinter einem Berg vergangener Haut wartend mit gespaltener Zunge, wartend auf den nächsten Frühling
Lauert hier also die bedrohliche Welt, der Krieg, hinter einem Berg, der aber nicht realen Bergen wie den Dolomiten entspricht, sondern vergangener, also toter Haut? Beim Sichhäuten und der gespaltenen Zunge denkt man unweigerlich an die Schlange. Mit gespaltener Zunge zu sprechen bedeutet eine Rhetorik von Widersprüchen, Blendungen und Paradoxen. Von einem Frühling Heilung zu erhoffen, scheint in diesem Zusammenhang beinahe naiv.
Die Musik und das Schweigen
Lyrik bedeutet die Schaffung von Mehrdeutigkeiten und die Freilegung von Bedeutungsschichten, sie ist grundsätzlich offen für das Paradoxe. Bei Pircher verliert das Nie-zu-Ende-interpretiert-werden-Können allerdings seine tröstende Kraft. Das Paradox zwingt zum Schweigen, das im Gedicht „Marschroute“ zum Thema wird, welches ebenfalls mit einer Kontradiktion endet.
(…) So bleibt das Schweigen Meine natürliche Sprache selbst wenn ich rede sage ich nichts Über mir fliegen Wörter einem weit entfernten Planeten zu Rakete, die irgendwo einschlägt als Schrei der sein Ziel im Rücken hat
Vielleicht liegt hier der Grund dafür, dass Pircher in der Musik Zuflucht sucht. „Aria“, deutsch „Arie“, bedeutet auch ein solistisch vorgetragenes Gesangsstück. Auch darauf geht Pircher im Interview in den „Dolomiten“ ein. „Als Kind habe ich viel gesummt und gesungen, wenn ich allein war. Es hat mir geholfen, mit schwierigen Situationen umzugehen. Musik begleitet mich immer mal wieder bei Schreibprozessen.“ Lässt sich mit Musik also das Elend der Welt, sprich des Krieges bannen? Das Gedicht „Abwehrsystem“ beginnt mit der Strophe:
So viel leere Luft über den Bäumen, ich sage Wörter auf: adagio bis moderat obwohl ich schreien will mich übergeben, es quillt Herz und Mund über am Einheitsbrei
Auch die oft englischen Gedichttitel können als ein Versuch gelesen werden, sich das Unsagbare vom Leib zu halten. Denn die fremde Sprache bewirkt, dass die Dinge dem lyrischen Ich nicht zu nahe kommen. Titel wie „Close your eyes and listen“, „Teen spirit“, „True colors“, „Blues“ ähneln popkulturellen Schablonen, mit denen die Unwägbarkeiten des Lebens etikettiert und somit einordenbar gemacht werden.
Insgesamt aber gemahnt Pirchers Aria an Anja Utlers Haiku-Sammlung Es beginnt. Trauerrefrain aus dem Jahr 2023, in der sich Utler wie Pircher weigert, die Realität des Krieges einfach zu akzeptieren, und die Trauer, die er auslöst, als psychischen Mangel zu sehen, in der sie darum ringt, im „Einheitsbrei“ der Kriegspropaganda eine eigene Stimme zu bewahren oder zumindest wiederzuerlangen.
Ein Wort, das mich pflückt
Die Aria zugrundeliegende Frage formuliert das lyrische Ich in dem Gedicht „Selbstbildnis“: „Was bedeutet Krieg / inmitten von Grün / dem Gesang der Amsel“. Aria sind Gedichte „Nach der Illusion“, wie ein anderer Titel lautet. Denn: „Wieder ist ein Krieg / nicht zu stoppen, nicht zu toppen / fährt uns die Propaganda / an die Wand (…)“. Trotzdem gelingt es dem lyrischen Ich, „den kalten / Augen des Steins“ Leben „einzuschlagen“.
Ich erkannte mich In der Sicherheit des Alleinseins schlug ich Das Gras, den kalten Augen des Steins Leben ein
Der Band, der mit dem Wort „Kapitulation“ reichlich düster begann, endet mit den Worten „zur Rettung in Blau“ beinahe zuversichtlich. Gerade der Rückzug, die „Sicherheit des Alleinseins“, verhilft dem lyrischen Ich zu klarem Sehen. Und in der letzten Strophe des „Rückzug“ betitelten Gedichts gibt Pircher den Wörtern und somit auch dem Dichten die Macht zu einer potenziellen, zumindest zeitweisen Rettung des Ichs zurück:
(…) Einmal werde ich ankommen für einen einzigen Tag in Sicherheit sein mit einem Wort das mich pflückt
Mit Aria gelingt Pircher schlussendlich so etwas wie eine zweite Geburt, das Mädchen nimmt Abschied von der Mutter, die in den Wolken schwebt und es in dem Gedicht „Poetry of Translation“, das sich in der Mitte des Bandes befindet, an zarten Fäden aufrichtet.
Poetry of Translation Ich verlieh meine Stimme in unterschiedlichen Tonlagen der Farbe des Windes summte und summte in mich hinein, aus mir hinaus: Aria Schwebezustand, der das Kind nach Hause führt, Kreise zieht sich ganz in den Spalten der Luft verschanzt Am Ende setzt man über ins Reich der Wolken blickt von oben auf das kleine Ich setzt ihm einen Faden an Hinterkopf und Glieder für eine zweite Geburt
Anne Marie Pircher: Aria. Gedichte. edition laurin, Innsbruck, 2024. 90 Seiten. 19 Euro