Die Rezensent*innen der Poesiegalerie empfehlen:
- Mira Magdalena Sickinger: FÜR EUCH VERGOSSEN. POESOPHIE.
- Elke Laznia: fischgrätentage.
- Anne Marie Pircher: Aria.
- Frieda Paris: Nachwasser.
- Stefan Schmitzer: loop garou. Invokationen.
- Isabella Krainer: Heul doch!
- Hannah K Bründl: Mother_s
- Renate Welsh: Leih mir dein Ohr.
- Nika Pfeifer: TIGER TOAST.
- Thomas Ballhausen: Unter elektrischen Monden.
- Ulrich Koch: LETZTE HILFE KURS. Gedichte.
- Evelyn Schlag: ins weiße meer der schrift
Mira Magdalena Sickinger: FÜR EUCH VERGOSSEN. POESOPHIE.
Klever, Wien, 2024. 70 Seiten, € 20,–
Mira Magdalena Sickinger arbeitete zu Ludwig Wittgenstein und schrieb bisher vorwiegend philosophische Texte. Die Gedichte, die in dem Buch versammelt sind, entstanden in den letzten drei Jahren, teilweise wurden sie bereits in Literaturzeitschriften veröffentlicht. Ihre Arbeitsweise, so steht es auchauf dem Buchcover, bezeichnet sie als „Poesophie“. Ist die Sprache ausbruchsicher? Kann durch Poesieüber die Grenzen der Sprache hinausgestiegen werden? Mira Magdalena Sickinger geht in ihrem Lyrikband diesen Fragen nach und verwandelt sie in Poesie – eine, die nicht verkitscht oder alles in Wattepackt, sondern selbstbewusst auftritt und Kante zeigt. Ihre Texte besitzen eine intensive Wirkung,sie verwirren und sind gleichzeitig rhythmisch und klar. Im Vorwort schreibt die Autorin: „darf ich sätze aufbrechen? kann ich eine sprache finden, die nicht beschreibt, sondern meine verwirrung, mein verlangen mitteilbar macht? ist das die poetischesprache?“ Es ist die Fragestellung einer Philosophin.
zur Besprechung von Stefan Schmitzer
Elke Laznia: fischgrätentage.
Müry salzmann, Salzburg, 2024. 128 Seiten, € 22,–
Der Prozess des Abschiednehmens von einem älteren Familienangehörigen ist Generalthema des Bands und die Frage, was bleibt, darin ständig präsent. Nähe und Intimität finden in den Fischgrätentagen poetisch genauso Ausdruck wie Befremden und Bitternis, Risse im Familiengefüge, die nicht mehr zu kitten sind. Die sprachlich bis auf die Essenz reduzierten, teils zu Zyklen („Mutterkraut“, „Milchmädchen“) zusammengefassten Gedichte bilden dabei ein Kontinuum, in dem der Einzeltext wie ein Ausschnitt aus einem größeren Ganzen erscheint. Der rhetorische Charakter der Texte, die sich stets an ein Du, Ihr oder Wir richten, ist eine weitere Konstante; eine Musikalität, die sich organisch aus der Sprache selbst heraus entwickelt. Äußere Koordinaten sind im Geflecht von zwischenmenschlichen (häufig: Mutter-Kind-)Beziehungen nur vage gesteckt. Konkrete Erfahrungen (die nicht zwangsläufig solche der Autorin sein müssen) machen Substanzund Dringlichkeit dieser Gedichte aus, aber das Individuelle wird dabei stets auf eine höhere Ebenegehoben und in ein Sprachkunstwerk überführt.
Anne Marie Pircher: Aria.
edition laurin, Innsbruck, 2024. 90 Seiten, € 19,–
Das lyrische Ich lebt in Aria in den Bergen undbenutzt die Natur als eine Art Schutzwall: um von dort aus genauer hinsehen zu können. Bereits imersten Gedicht taucht das Wort „Krieg“ auf, auch wenn dieses nur von einem Blatt handelt, das im Herbst vom Baum fällt. Wenig später hofft das lyrische Ich „auf Frieden oder zumindest Krieg“. Der Krieg findet aber auch in der Person selbst statt. Und das Leben, die Natur bedeuten ebenfalls Krieg. Bei Pircher verliert das Paradoxe, das Nie-zu-Ende-interpretiert-werden-Können seine tröstende Kraft. Damit erinnert Aria an Anja Utlers Haikus in Es beginnt. Trauerrefrain (2023). Wie Utler ringt Pircher darum, im Anbranden der weltpolitischen Grausamkeiten eine eigene Stimme zu bewahren oder zumindest wiederzuerlangen. Zuflucht bietet die Musik, mit ihr gelingt eine Art zweiter Geburt. Der Band, der mit dem Wort „Kapitulation“ reichlich düster begann, endet mit den Worten „zur Rettung in Blau“ beinahe zuversichtlich.
Frieda Paris: Nachwasser.
edition azur, Berlin, 2024. 136 Seiten, € 22,–
Was darf ein Gedicht, darf es alles? Das fragt Frieda Paris mehrmals in ihrem Langgedicht Nachwasser, das als Lyrikdebüt in der edition azur von Voland & Quist erschienen ist. Beantwortet wird diese Frage in einnehmend ausufernder Weise, ganz im Sinne der 2021 verstorbenen Friederike Mayröcker, die dafür Patin stand und mit diesem Band eine würdige Hommage erhält. Paris begibt sich auf eine Expedition in fremde Überbleibsel, durchforstet akribisch den Nachlass im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, mit besonderem Augenmerk auf die „Rückseiten“ der Postkarten, Erlagscheine, Schmierzettel – aber auch des anderen und eigenen Lebensverlaufs. Neben der omnipräsenten Mayröcker begegnen wir Ingeborg Bachmann, Paul Celan oder Herta Kräftner, aber auch Überraschungsgästen wie Marilyn Monroe. Was als Hommage für die vielbeschworene „Wortmutter“ beginnt, entwickelt sich zur eigenständigen künstlerischen Position, die ganzaus eigener Kraft abhebt und zu fliegen beginnt.
Stefan Schmitzer: loop garou. Invokationen.
Ritter Verlag, Klagenfurt, 2024. 96 Seiten, € 15,–
Loop garou ist abgeleitet von loup-garou, dem Werwolf im Französischen. Loops sind freilich moderner als so ein Wolf und versprechen kreisförmige Strukturen, die es auch gibt in den Gedichten Schmitzers. Der Untertitel des Bandes lautet „Invokationen“, also Anrufungen. Unterschiedlichste Figuren der Weltgeschichte und des Mythos werden da angerufen wie der russische Astrophysiker Nikolai Semjonowitsch Kardaschow, Dr. Sigmund Freud, Hephaistos, Zeus, Athene und Aphrodite etc. Anaphern und Epanalepsen finden sich in Schmitzers Texten genauso wie litaneiartige Wiederholungen und Metaphern. Ein paar der Invokationen kreisen um unsere Galaxie und deren Verfasstheit: „der mensch was here“, lesen wir da. Das verheißt nichts Gutes. Die Sprache ist für Schmitzer, wie es in der Avantgarde üblich ist, ein Material, das kreativ weiterentwickelt werden kann. So entstehen Neologismen und Verfremdungen. Sprachwitz und Sprachlust inklusive.
Isabella Krainer: Heul doch!
Limbus, Innsbruck-Wien, 2024. 96 Seiten, € 15,–
Der Titel ist ein Aufschrei, die unverblümte Aufforderung, alles herauszulassen, was nicht passt, was gar seit Jahren schon hinuntergeschluckt wird. Die Autorin hält der Gesellschaft einen Spiegel vor; sie prangert an, was nicht in Ordnung ist. Das Lächerlichmachen einer Frau, das Wegschauen und Ignorieren finden Widerhall in den Gedichten. Sie sind schmerzhaft, aber leider Realität. Beziehungen, oder besser, das Scheitern von Beziehungen, nehmen breiten Raum ein. Aber Beziehungsprobleme und Trennungen lassen sich nicht nur mit Bitterkeit, sondern auch kombiniert mit Schalk abhandeln. Selbstverständlich darf (und soll) bei Lyrik auch mal gelacht werden. Sogar bei ernsten Themen. Denn immerhin bleibt etwas, worüber wir gelacht haben, besser im Gedächtnis hängen. Diese Kombination von Humorvollem und Ernsthaftem hat Isabella Krainer bravourös im Griff und wendet es vielfältig an. Die kurzen Verse sind flüssig und dadurch oft sehr einprägsam lesbar. Das auffälligste Merkmal ist aber der intelligente und gewitzte Umgang mit Sprache, Worten und Redewendungen.
Hannah K Bründl: Mother_s
Urs Engeler, Wien, Berlin 2023. 84 Seiten, € 12,–
Hannah K Bründls Debütband ist das poetisch ausgefeilte Statement einer engagierten Auseinandersetzung mit dem Zur-Welt- und Zur-Sprache-Kommen aus der Sicht von FLINTA-Personen, also von allen Menschen, außer heterosexuell orientierten Männern. Schon die ersten Verse „aus mir heraus ist ein baby / auf den boden gefallen“ schlagen einen ernüchternden Ton an, in dem die Rebellion gegen das Verhängnis zum Ausdruck kommt, als die der eigene Körper in patriarchalen Strukturen erfahren wird. Dabei sind Bründls Gedichte mit ihrer großen Bandbreite an poetischen Mitteln unterschiedlichen Frauen, Homosexuellen, Nonbinären und Transpersonen durch die Zeiten wie Kybele, Krimhild, Patti Smith, Nina Simone, Audre Lorde oder McKenzie Wark gewidmet. Indem ihre Schicksale zur Sprache kommen ,lassen sich die Gedichte als Protokolle der Selbstermächtigung lesen, entsteht aus dem anfänglich passiven Erleiden erneut Handlungsmacht.
zur Besprechung von Regina Hilber
Renate Welsh: Leih mir dein Ohr.
Czernin, Wien, 2024. 75 Seiten. € 20,–
Eine tiefe Gewissheit jenseits aller Zweifel zeigtsich in jedem der Gedichte des vorliegenden Bandes. Renate Welsh verschont uns nicht mit Erkenntnissen, die aus großer Bewusstheit herausgeschrieben sind. Fragen zu stellen und die Antworten darauf wiederum in Frage zu stellen sind wohl Überlebensstrategien. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass es keine Sicherheit gibt. Den Texten ist eine Art fruchtbringende Schonungslosigkeit immanent, die den Sprachgebrauch oder besser die Sprache selbst hinterfragt. Renate Welsh spannt den Bogen vom Privaten zum Gesellschaftlichen. Manchmal erzählen die großteilsreimlosen Gedichte von schauerlichen Zuständen und Befindlichkeiten, sie tun dies auf eine äußerst explizite Art. Einige von ihnen tragen jedoch eine gänzlich andere Qualität in sich. Diese Textstellen haben eine verdeckte Sprechinstanz und besänftigen das wachsame, selbstkritische lyrische Ich. Renate Welsh berührt in diesem Buch das weite Spektrum irdischer Existenz, indem sie stets etwas Unerklärbares, Unfassbares mitschwingen lässt.
Nika Pfeifer: TIGER TOAST
Ritter Verlag, Klagenfurt, 2024. 105 Seiten, € 15,–
Ein Buch wie ein Überfall, jedoch im umgekehrten Sinne. Hier wird nicht geraubt, sondern die Lesenden werden mit einer Fülle von Ideen, Verweisen, multilingualen Spielereien und poetischen Ein- und Ausdrücken überhäuft. Mit TIGER TOAST hat die Autorin und Sprachwissenschaftlerin Nika Pfeifer etwas geschaffen, das räumliche und sprachliche Grenzen überschreitet. Es ist global, wie die Poesie global ist, es ist nah und fern wie ein Tiger und individuell wie der Abend nach einem Arbeitstag. Das Buch ist daher bei Weitem nicht nur Zirkus oder Akrobatik, sondern es finden sich hier feine Beobachtungen, aus dem Alltag gegriffen und aus dem Leben gepellt. Es lädt zum Verweilen und Weiterspringen ein. Dies spiegelt sich auch in der Vielfalt der Form wider. Es scheint, als hätte jeder poetische Impuls der Autorin sich jene Form genommen, deren er bedarf, um Text zu werden. TIGER TOAST ist Pop oder popkulturell, es ist softer Punk, mit Remixes, Comics, Hinweisen und Verweisen. Kurz: In dem Band zeigt sich die Gegenwart, in ihren Fragmenten, Szenen und Codes.
Thomas Ballhausen: Unter elektrischen Monden. Mit einem Nachwort von Helwig Brunner.
Edition Keiper, Graz, 2023. 80 Seiten, € 16,50,–
Thomas Ballhausens Gedichte muten wie eine hochkomplexe Zeitzeugenschaft an, die weit zurück in die Vergangenheit reicht. Die lyrischen Texte transportieren das Eruptive, Nicht-Definierbare, Inhomogene, Nicht-Chronologische menschlicher Existenz. Die Gegenwart wird von Instabilität und Infragestellungen bestimmt. Manipulative Mechanismen, Märchengestalten, datenbasierte Systeme, mythologische, religiöse oder politische Stimmen, Warnungen, Beschwörungen, Appelle: Alles wird zur gegenseitigen Durchquerung. Ein beachtliches und diszipliniertes Unterfangen. Der Schreibprozess selbst fließt ebenso in die Texte ein. Thomas Ballhausen leitet jedes der sechs Kapitel durch ein Zitat ein. Und wie einem Zitat Paul Celans letztlich zu entnehmen ist, ist es die Weltzeit, die die inhaltlichen und formalen Parameter dieses beeindruckenden Lyrikbandes bestimmt.
Ulrich Koch: LETZTE HILFE KURS.
Jung und Jung, Salzburg 2024. 176 Seiten. € 24,–
Der 1966 geborene Lyriker Ulrich Koch veröffentlicht mit LETZTE HILFE KURS einen umfangreichen Gedichtband, der sich mit heiterem Ernst der dunkelsten Themen annimmt. Seine um Tod und Vergänglichkeit kreisenden Texten kommen erstaunlich leicht daher, entwickeln aber gerade in der Summe eine wohlige Schwere. Wir lesen vom „Pingpong der Einweisungen und Entlassungen“ oder von Paaren, die fürchten, „in der falschen Reihenfolge zu sterben“. Im titelgebenden Gedicht hängt der Angst „noch ein Stück Seele aus dem Maul“. Koch findet sprachliche Entsprechungenfür komplexe Empfindungen, verschriftlicht gekonnt das Unaussprechliche. Dieser LETZTE HILFE KURS gibt Leserinnen und Lesern Anleitung, mit offenen Augen und gespitzten Ohren unterwegs zu sein und macht gerade in seiner nichts beschönigenden Todesnähe Lust auf ein Leben, das einem alles abverlangt und nichts vorenthält. Mit feiner Ironie entdüstert Koch die Vergänglichkeit, ohne ihr etwas von ihrem Schrecken zu nehmen.
Evelyn Schlag: ins weiße meer der schrift
Hollitzer, Wien, 2024. 128 Seiten, € 19,–
Nach den letzten beiden Romanen In den Kriegen (2022) und Please Come Flying (2023) legt Evelyn Schlag einen Gedichtband vor, den ersten seit verlangsamte raserei von 2014. Der Band ist in thematische Blöcke aufgeteilt, die zugleich bestimmten Settings entsprechen. Der erste Zyklus „im krieg“, kann als ein lyrisches Pendant zum Roman von 2022 gelesen werden; er veranschaulicht Szenen aus dem aktuellen Krieg in der Ukraine. Die jungen Soldaten dieser sehr unmittelbaren Momentaufnahmen lieben es, frei zu assoziieren, ebenso aber, ständig in Konkurrenz miteinander zu treten. Im Zyklus „lustige tränen flogen mir zu“ umkreist die Autorin Begegnungen von Mann und Frau. Eine zufällige Verführung, Liebende in großer Entfernung oder auch eine ungeplante Kindeszeugung und -weglegung werden hier präsentiert. Ein weiterer Zyklus lässt sich als eine stilistisch sehr treffende Würdigung der Lyrik von Christine Lavant und Georg Trakl lesen. Dabei schlägt die Autorin interessante Bögen in die Gegenwart.