Klaus Ebner liest Lorena Pirchers eure stimmen eure sprachen
Der Titel spricht es bereits an: Es geht um Sprachen, es geht um die Stimmen vieler, die sich in unterschiedlichen Sprachen ausdrücken, aber auch um Stimmen, die in einem mal diffusen, mal konkreten Gefühl von Erinnerung und Heimatgefühl auftauchen und ihren Platz fordern. Lorena Pircher war von klein an mit einem Neben- und Miteinander unterschiedlicher Sprachen konfrontiert. Das prägte ihre Kindheit und Jugend, und vieles aus dieser Zeit kommt im Gedichtband eure stimmen eure sprachen zu Wort.
Cover © Edition Exil
Lorena Pircher wurde 1994 in Südtirol geboren. Sie Studierte Englisch und Französisch sowie Vergleichende Literaturwissenschaften. Eine Zweisprachigkeit zumindest mit Deutsch und Italienisch ist anzunehmen. Kurzgeschichten und Gedichte publizierte sie in diversen Anthologien und Literaturzeitschriften, außerdem übersetzt sie aus dem Italienischen und Französischen. 2023 wurde ihr der Lyrikpreis der exil-Literaturpreise zuerkannt. Die Autorin lebt heute in Wien.
Das Buch ist in sechs Abschnitte unterteilt, die nicht nur die Gedichte gruppieren, sondern eine gewisse innere Chronologie verraten: „herkunft“, „suche“, „stimmen“, „rückkehr“, „weite“, „reise“. Ebenso wie die Gedichte selbst sind die Abschnittstitel durchgehend in Kleinschreibung gehalten. Aus dem ersten Abschnitt „herkunft“ stammt das mehrteilige und titelgebende Gedicht „eure stimmen eure sprachen“: Sein erster Teil lautet:
schmale knöchel in holzschuhen es waren weite wege und sie haben in den kornkammern geschlafen: du sagst die wege die habe ich erwandert: wollte sehen wollte spüren wo sie standen: geruch von tannenzapfen fahl schien die sonne auf gesenkte köpfe in diesem ort zwischen den ländern und eure stimmen gegenläufig eins eure sprachen großmutter eure sprachen großvater (…) und ich suchen werde: verglühte kohlen einer anderen zeit will nichts verlieren von damals als ich noch nicht war will nichts verlieren um zu verstehen vom verloschenen vom verschwundenen wenn sie den winter ernten eure stimmen eure sprachen großmutter großvater die mir erzählen vom tod und vom leben vom schnee
Der Ton der Rückschau und Erinnerung prägt das Buch sehr deutlich. Bei der Lektüre kann ich sehr gut mit den Gedankensträngen mitgehen, mir die Szenerie vorstellen, das Ambiente und die darin vorkommenden Personen, die mit dem kindheitlichen Lebensumfeld der Autorin in vielfältiger Weise verbunden sind.
Form
Die Texte erfolgen in durchgehender Kleinschreibung, und auf Satzzeichen wurde verzichtet; lediglich Doppelpunkte und Gedankenstriche kommen vereinzelt zum Einsatz. Lorena Pircher verwendet freie Rhythmen, und die Verse sind oft so lang, dass es Leser*innen schwerfällt zu bestimmen, ob es sich tatsächlich um ein in Versen gesetztes Gedicht handelt oder um lyrische Prosa und Fließtext in linksbündigem Flattersatz. Das folgende Gedicht „wasser“, das diesen Duktus zeigt, wird hier genau wie im Buch gedruckt wiedergegeben:
mare di notte wie der schnee im april in klirrender kälte salzwasserkrusten an kleidern zu dünn für die arbeit auf dem feld und bergbauernhöfe in dunstigem morgen wenn das tyrrhenische meer sich an den zwei felsen stößt: partenope die neapel geschaffen und im norden leuchtend blutrote berge wenn die sonne späte strahlen wirft das wissen vom davor im danach wenn jakobsmuscheln deren geschmack dort geblieben unsere münder noch an worte erinnern die wir nicht mehr kennen
Die zahlreichen Enjambements unterstreichen den Eindruck einer Prosalyrik. Allerdings trifft das bei Weitem nicht auf alle Gedichte zu.
Wie oben zu sehen, kommen auch die anderen Sprachen vor, hier Italienisch. Solche Phrasen können am Beginn stehen oder durchaus in der Mitte eines Textes; jedenfalls sind fremdsprachliche Elemente direkt in die Verse eingebaut, und sie werden auch nicht erläutert oder übersetzt. Rhythmisch wurden sie stets perfekt eingepasst, d.h., es gibt keinerlei Unterbrechungen, sondern die Sprachmelodie fließt ungehindert durch. Ein Gedicht, das mir besonders gut gefiel, ist „sturm“:
die wenigen worte die ich gepflanzt isolati zwischen die vielen monate von stille genährt auf den seltenen regen vertraut non ho più scritto niente per anni gelegen im gras bis sie mir in den handrücken stechen male auf meiner wange zu lange nicht geschrieben bis er sich abgelöst von meiner haut der geschmack des meeres dein geruch der mir grund zum schreiben
Eine Erinnerung, so einfühlsam wie zärtlich, vermengt mit der Sprache, die offenbar zurückgelassen wurde; Anspielungen auf die Umgebung, womöglich an einen Urlaub am Meer mit der angesprochenen Person; und am Ende gerät dieses geradezu unbeschreibliche Gefühl zum Schreiben von Gedichten, jede Erinnerung an Glückseligkeit, jedes zwischen den Zeilen mitschwingende Bedauern.
Reminiszenz
In Südtirol wuchs die Autorin offenbar mit gleich drei Sprachen auf. Neben Deutsch und Italienisch auch noch mit der ladinischen Variante des Rätoromanischen. Auf diese Einflüsse nehmen die Gedichte viel Bezug. Wie bereits gezeigt wurde, kommen auch Wörter oder Phrasen einer der romanischen Sprachen vor, allerdings für mein Empfinden verblüffend selten. Nichtsdestotrotz ist es auch oder gerade diese Sprachenvielfalt, welche die Erinnerungen der Autorin belebt.
Die Gedichte drücken eine tiefe Verbundenheit aus, gewiss auch Wehmut und Melancholie. Ob diese Erinnerungen tatsächlich etwas Verlorenes beschreiben, bleibt zumeist offen, denn es ist möglich, jederzeit an die Orte der Kindheit zurückzukehren. Die Sprache aber, die kann sehr wohl in gewisser Weise verlorengehen, wobei nicht klar ist, ob es sich dabei um den Südtiroler Dialekt des Deutschen, das Italienische oder gar das Ladinische handelt – womöglich meint die Autorin ja das unnachahmliche Nebeneinander aller Sprachen ihrer Kindheit. In „kalt“ heißt es:
die müde sonne auf meiner hand: von menschen die hier gewartet auf das blühen der hagebutten in den falten meiner hände verlorene sprache noch im ohr die worte hat für das abheilen von schorf und das bleiben von narben die worte hat für das ende des sommers
eure stimmen eure sprachen ist ein Gedichtband, der eine tiefe Ruhe vermittelt. Das hat einerseits mit den beschriebenen Szenerien, aber auch mit dem sanftmütigen Sprachduktus zu tun. Ein Buch also, in das wohl insbesondere von der täglichen Arbeit Gestresste gut eintauchen können und sollen. Lorena Pirchers Gedichtband wurde von der Wiener edition exil ästhetisch gestaltet. Die zweifarbige Buchdecke zeigt die Umrisse blauer Schwalben auf zinnoberrotem Hintergrund – ein grafisches Symbol für die Ruhe und Heimatverbundenheit, welche dieser Lyrikband ausstrahlt.
Lorena Pircher: eure stimmen eure sprachen. edition exil, Wien, 2024. 152 Seiten. Euro 14,–