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Ewiges Eis soll in eure Lenden fahren!

Ewiges Eis soll in eure Lenden fahren!

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Alexander Peer liest Rüdiger Görners Englische Elegien


Mit diesem Fluch versetzt Morgana in der Artus-Sage den Zauberer Merlin in Erstarrung. Ist den Lenden jedoch die Kraft genommen, droht dem Land das Darben. So entsteht eine Epoche des Verfalls, die nur dann ein Ende findet, wenn dieser Fluch aufgehoben wird. Weniger romantisch ist die profane Erklärung, dass die Vitalität blockiert ist, wenn jemand an Impotenz leidet. Das kann greise Magier genauso betreffen wie fürs Zaubern völlig Unbegabte. Doch erst dann reift der Anlass zur Klage. Das ist der altbekannte, enervierende Zusammenhang von kreativem Schaffen durch den Verlust von Souveränität.

Legt man diese Perspektive auf Rüdiger Görners Band Englische Elegien, erschienen in der edition pen LÖCKER, um, dann münden diese zehn Klagen zu einer Diagnose eines Landes, das eben auch in ewigem Eis erstarrt ist bzw. dessen Lenden Altersschwäche zeigen. Ganz so wie im wirkmächtigen Artus-Epos. Über 40 Jahre haben sich Bilder in dem vielbeschäftigten Literaturwissenschaftler abgelagert, die die britischen Inseln historisch, atmosphärisch und kulturgeschichtlich zu erfassen suchen.

Cover © Löcker Verlag

Bereits 1981 setzte er selbst den Fuß auf Britannien. Wie weit ihn seine Beine getragen haben, mag man an den vielen regionalen Motiven erahnen, die sich in diesen Texten versammeln. Geschrieben wurden diese Englischen Elegien laut Klappentext während mehrerer Aufenthalte in dem Küstenstädtchen Deal (Kent) binnen zweier Jahre.

Brückenbauer im Akkord

Der Klappentext verrät allerdings nicht, wann genau diese Texte entstanden sind. Was sich vermuten lässt, ist ein Zusammenhang mit dem sich entweder abzeichnenden oder dem bereits vollzogenen Brexit. Görner hat sich über Jahrzehnte um eine enge Beziehung von England und den deutschsprachigen Ländern bemüht. Das belegen etwa die Gründung des Ingeborg-Bachmann-Zentrums für Österreichische Literatur 2002 oder des Zentrums für Britisch-Deutsche Kulturbeziehungen 2005 an der Queen-Mary-Universität in London. Bei den europäischen Toleranzgesprächen in Fresach 2019 hatte ich Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Eine seiner damals vorgebrachten Begründungen für den Brexit liegt im Selbstverständnis Britanniens, das sich immer noch als überlegen versteht und für den Kontinent wenig Wertschätzung hegt. „Das einst so beliebte Understatement der Briten hat sich in eine Sprache des Trotzes und des verletzten Stolzes verwandelt“, diagnostizierte der genau beobachtende Kenner. Es ist ein Paradoxon, dass alle Welt Englisch spricht, sich England aber von aller (europäischen) Welt abwendet und meint, allein viel schlauer zu sein. Darüber kann man zurecht klagen.

Der Band beginnt genau mit diesem Befund:

Wellenumrittenes Land, schaum- und schattengekrönt;
verinselter denn je in der Zeit.

Diese allzu vertraute Metapher der Insel steigert sich. Durch diese wehmütigen Befunde zieht sich eine Insel in Isolation, man mag das neologistisch eine Insolation nennen. Dabei ist der Commonwealth und damit das britische Empire präsent, doch gerade das Überschwappen des Globalen ins traditionell Nationale geistert bedrohlich durch die Nächte der Autochthonen. So heißt es in der zweiten Elegie:

Alptraum auf Englisch: kolonisiert zu werden
von den Kolonisierten.
Im Morgenrot erbleichen,
mit den Perücken der Richter das Urteil kaschieren
und den Haarausfall.

Im Auffächern vertrauter und kaum vertrauter Englandbilder zeigt sich immer eine leichte oder auch spitze Ironie gegen das Erhabene. So verlieren die Elegien Ballast, kommen oft leichtfüßig daher. Dieser Band verschließt sich allerdings nicht dagegen, auf Wunden zu blicken. Einmal heißt es, „was hallt, wenn in die Schatten wir rufen?“

Die Schatten eigener Geschichte werden anhand von historischen Traumata sichtbar. Etwa wenn auf das Peterloo-Massaker in Manchester 1819 (Anm. im Band irrtümlich 1818) verwiesen wird oder auch auf die Exekutionen anlässlich der Bürgerdemonstrationen im nordirischen Derry (Londonderry) 1972, die mit dem U2-Song „Sunday, bloody Sunday“ weltweit bekannt wurden. Blutspuren markieren die Wege mancher Klage. Mal sind es diese politisch zugespitzten Ereignisse, mal tragische Figuren der britischen Geschichte. Mit der Freiheit des Gedichts darf etwas zusammen gedacht werden, was sonst nie zusammenfände. So werden in der dritten Elegie die 1915 hingerichtete Krankenschwester Edith Cavell, die Alliierten die Flucht aus dem von Deutschland besetzten Brüssel ermöglichte, und die fiktive Lady Macbeth auf kühne Weise verbunden:

Ich sah dabei zu, wie die Tage einander Zeit entzogen,
und hörte das Unterhaus beschließen,
Edith Cavell und Lady Macbeth seien Zwillingsschwestern. 

Diese Verschmelzung einer realen Märtyrerin, die sich unerschrocken im Ersten Weltkrieg zur Rettung vieler Verwundeter bekannte und dabei selbst zu Tode kam, mit der ebenfalls tapfer agierenden Shakespeare-Protagonistin ist eine Verdoppelung der Historie. Einerseits wird damit ein geschichtliches Faktum aufgegriffen, das einen großen Referenzraum öffnet, denn Cavells Tod empörte die Weltöffentlichkeit und ganz besonders die Briten, die den Deutschen danach noch argwöhnischer gegenüberstanden. Andererseits sorgt die kulturgeschichtliche Anreicherung für eine heroische Steigerung. Eine interessante Wechselwirkung, denn dadurch bekommt auch Lady Macbeth eine zusätzliche Fülle.

Versteckte Geschichtsstunde

Das Lesen dieser Elegien gerät dadurch auch zu einem Rätselraten. Was hat es mit dieser Anspielung auf sich? Wer versteckt sich hinter diesem Verweis? Das löst auch immer wieder Freude aus. Allerdings wirken manche assoziativen Sprünge beliebig. Es fällt dann schwer, einen Bogen zu erahnen. Aber womöglich ist da überhaupt keiner?

See Also

Klarer ist die Motivlage in der fünften Elegie. Denn da summieren sich Küstenbezüge, die Orte sind fassbarer. Sie sind zwar auch weit verstreut, aber irgendwann im Laufe der Elegie führen sie nach Cornwall. Geschickt vermengt sich da ein Bündel an Motiven. Die Elegie endet mit einem besonders ergreifenden Verweis, kommt über die populäre Romanfigur Ross Poldark von Winston Graham, einem Womanizer par excellence, zur Tristan-Sage.

Und immer brauste und gähnte das Meer.

Nicht nur Isolde wähnte,
Land’s End wäre ein Anfang.

Der Charakter der Briten in seiner Ichbezogenheit begünstigt diesen Zug zum Wehklagen. Gleichzeitig nährt der Blick auf das die Insel umgebende Meer ein Fernweh. Einerseits will man per se nichts mit den anderen da draußen zu tun haben, andererseits blickt man schmachtend auf den Horizont. An vielen Stellen gelingt es Görner, Witz mit Kulturanalyse zu verknüpfen. So beginnt die siebte Elegie:

Windräder überrollen das Inselland,
während Strandgut die Häfen blockiert.
Verblichenes Grün der Gärten und Hügel,
maisstrohgelb, was Weiden waren;
selbst Moore versanden, sind trockener noch als der Humor;
aber der Meeresspiegel steigt,
von Salzkrusten gerahmt. Wer erkennt sich darin?

Wer je Hamlet gespielt,
weiß über Schädel mehr,
begreift im Sein das Nichtsein
und wirft mit Schweigen um sich.

Den Befund über einen Klimawandel – und später im Gedicht allerlei brütende Alltäglichkeit und popkulturelle Phänomene – mit dem wohl bekanntesten Shakespeare-Bild zu verweben, ist vielleicht gewagt, aber hat zumindest mich sehr unterhalten und scheint mir auch eine passende Klammer zu bilden. Denn das Gedicht endet ebenfalls mit einem Motiv allmählichen Verstummens nach kurzem Himmelssturm:

In Greenwich durchschnitt mich der Nullmeridian;
Seither tickt in mir die Längenuhr.
Schau, die Sternwarte, flüsterst du:
das Kraftwerk für Herzblicke ins All.

In Croom’s Hill beflügeln mich Fächer,
doch verzähle ich auf dem Tunnelweg
zur Isle of Dogs meine Schritte.

Wieder zurück in Greenwich Park,
wo einst wir einander beatmeten,
füttern wir, du und ich,
am Hang, jeder auf seiner Bank,
Tauben und Stare und Illusionen.

Rüdiger Görner hat nach seiner Emeritierung und dem Beenden diverser wissenschaftlicher Verpflichtungen viel Zeit für seine eigene Literatur genutzt. Das ist schön. England lässt ihn nicht los, auch wenn er heute wieder in Deutschland lebt. Schon in seinen Romanen Der Cicerone oder Steers Weg (2021), in den Gedichten der Londoner Disfonien (2017) oder dem ebenfalls 2024 veröffentlichten Eulenspiegel in Waterloo Station sind britische Motive allgegenwärtig. Wie fleißig Görner schreibt, ist auch an seiner diesen August bei Zsolnay erschienenen Bruckner-Biografie Bruckner. Der Anarch in der Musik zu erkennen. Eines scheint klar: Diese Lenden strotzen vor Energie.


Rüdiger Görner: Englische Elegien. edition pen LÖCKER, Wien, 2024. 70 Seiten. Euro 19, 80

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