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Latente Melancholie

Latente Melancholie

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Ganglbauer Petra liest Erika Kronabitters Delfine vor Venedig


Im neuen Gedichtband von Erika Kronabitter gehen formale Strenge und das latente Gefühl von Melancholie, welche sich über die Gedichte legt, besser noch, mit ihnen schwingt, eine Synthese ein. Eine stete Bewegung wohnt den Szenen inne, die synästhetisch anmuten und dennoch – weitab von Überfrachtung – die Atmosphäre Venedigs (und in deren Spiegel die Befindlichkeit der Seele) einzufangen suchen.

Cover © Edition Melos

Wenn Arnold Schönberg von „Fasslichkeit“ sprach, dann lässt sich dieser von ihm so geschätzte Begriff ausgezeichnet auf die vorliegenden Gedichte übertragen. Sie verstehen sich als Versuch, Venedig, eine Stadt in ihrer unaufhörlichen Bewegtheit, zu übersetzen und eine Sprache dafür zu finden, die jenseits herkömmlicher Zuschreibungen und dennoch das Konkrete, Alltägliche nicht außer Acht lassend, agiert. In „küssen wir uns“ beispielsweise:

verschiebt sich die grenze | jedes mal |
verschiebt sich | verschiebt sich etwas

Endlichkeit

Eine Verrückung, Verschränkung von allem (mit allem) durchzieht das Geschehen und hält, besser stellt so als einziges fest, dass alles vergänglich ist. Die Stadt, das Ich, das Du. Der Körper. Die menschliche Existenz. Die Beziehung.

So heißt es etwa in „hüllenlos“:

die brücken | tragen das lachen zinnoberrot
etwas zu spät zu spät färbt sich der
cyanhimmel | du hast
den platz noch nicht eingenommen
                      kein wenn und aber

| die löwen 
wachen über jeden schritt
warten | schreiten über die Gräber |
dort wo sie dich wo sie mich erwarten (…)

Während die Stadt pulsiert, wird sie nachgezeichnet: „wir fotografieren nach schräg unten“, das Geometrische, Abstrakte, „ein unerwartet“, das Akustische „rauschen sein“ oder „ein elliptisches geknurre“, „unsichtbare linien“. All das wird aufgezeichnet, registriert, gleichsam protokollarisch. Es ist nicht immer klar definiert, was sich vor das Auge schiebt, manchmal ist es verschwommen, als ob ein Weichzeichner darüber gelegt worden wäre, und dann gibt es auch diese „unschärfe der nacht“.

Zwischen den raumgebenden, raumgreifenden inneren und äußeren Bewegungen setzt sich der Tag nieder, genauer, der touristische Alltag: Das Promenieren, das Flanieren, das Schieben der Körper durch die Gassen Venedigs, die Cafés, die „gestützten“ oder „gestürzten“ Denkmale, die Biennale, Taubenschwärme, die „ozeanriesen“, welche aus dem Meer auftauchen und anlegen…

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Doch es gibt auch einen anderen Blick. Jenen auf die Rituale der vor Ort lebenden Bevölkerung, von der man weiß, dass sie extrem unter dem Ansturm der Massentouristen leidet. Ein im besten Sinn hinlänglich bekanntes Ritual liest sich in dem Gedicht „wie klein ist“ wie folgt:

willst beobachten | die einheimischen    ihr dasein
im milchigen morgen
ertasten „l’allegria“ | verstehen ein zwei worte
aus geprächen erahnen | an der bar |
nippen kippen
caffè doppio | cornetto zwei bissen | (…)

Jenseits des Klischees

Venedig, die Stadt der Kunst und der Geschichte, oft besucht, beinahe schon geplündert, ersteht in diesem Lyrikband noch einmal auf eine andere, ungewohnte Weise; hier wird die Metaebene sozusagen als anderer Blick (jenseits von Klischees), als konstitutives und – mehr noch – unverzichtbares Element eingebaut, um der Plastizität bekannter Szenen einen Kontrast zu bieten. Die Metaebene und mit ihr der Blick auf Strukturen, Körper, Linien, Bildausschnitte, Anrisse, Anklänge, ist gewissermaßen das Korrektiv für jenes Venedig, das wir kennen.

So ist dieser Lyrikband eine etwas andere Form der Annäherung an einen Ort (der eigentlich schon bald kein Ort mehr sein wird), indem er auf die Reduktion der Stadt auf ihre Attribute weitgehend verzichtet. Und er ist eine Annäherung an die innersten seelischen Empfindungen des Menschen, an das, was uns alle betrifft und befasst.


Erika Kronabitter: Delfine vor Venedig. Stadtbilder animiert reloaded. Edition Melos, Wien, 2024. 57 Seiten. Euro: 26,–

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