Michael Hammerschmid liest das Gedicht „Die Stunde lag bereit“ des jüngst verstorbenen Alfred Kolleritsch
Die Stunde lag bereit, verriet voraus, dass es kein Entweichen gibt. Das ist das Spiel. Es spricht mit uns, dunkel und licht zugleich, Unvergängliches ohne Dauer.
Alfred Kolleritschs Gedichte sind keine Interpretationsgedichte. Man kann in ihnen vielmehr bestimmte Erfahrungen machen. Begriffe, die sie nahelegen, um sie zu beschreiben, wie beispielsweise „Paradox“ lösen sich an ihnen auf und erhalten gleichzeitig in ihnen, durch sie konkrete Sprach/Gestalt. Paradoxa kann man im Allgemeinen schnell herstellen. Doch schnell ist in diesen Gedichten nichts. Sie artikulieren vielmehr Widerstand gegen die Zeit, lösen sich nicht in ihr auf, widerstehen ihr, und schälen so ungekannte ihrer Eigenschaften heraus. Das italienische hermetische Gedicht könnte einem einfallen, das in Österreich (bis auf beispielsweise Paul Celan, bei Gerhard Kofler in Spuren…) wenig Aufnahme und Widerhall gefunden hat. Auch die Gedichte Alfred Kolleritschs verweigern sich. Aber sie lassen auch zu, und es entsteht Bewegung, Verhältnisse werden abgesteckt, Fragen und Antworten scheinen auf. Es ist ihr Schein, der sie sprechen lässt. Jene Art des Scheins, von dem Peter Handke in seiner Maigeschichte „Das zweite Schwert“ erzählt, einem Schein, der die Dinge verdeutlicht, nicht der oberflächliche Schein. „Die Stunde lag bereit, / verriet voraus, / dass es kein Entweichen gibt.“ Wie eigenwillig dieses Entweichen statt „Entkommen“.
Nah- und Weltenraum
Es gibt kein Entweichen. Hier könnte eine Exegese des Wortes und Gedichts ihren Ausgang nehmen. Aber das Gedicht braucht eine solche nicht. Die vielen Worte würden das Gedicht verdecken, die wenigen Worte des Gedichts widersprechen den vielen. Die Gedichte Alfred Kolleritschs sind in einem großen Zeit-Raum, Weltenraum, gedacht, unkleinlich grundsätzlich. Sie sind aber ebenso im Nahraum verfasst, aus dieser Amplitude, der nahen Beschreibungsgenauigkeit, Bestandsaufnahme von Ereignis, Empfindung, Sprach – Un – Möglichkeit und den großen Bewegungen menschlicher Existenz – Leben Liebe Tod – schöpfen sie ihre Notwendigkeit. Jede*r kennt die Ahnung der kommenden, „vorausverratenen“ Stunde, die Gewissheit. Welche ist es? In diesem Gedicht? Im Präteritum, in dem diese erste Strophe spricht (in den nächsten dann ins Präsens wechselnd), liegt die Gewissheit und Erfahrung. Und die Gegensätze beginnen zu arbeiten: Der vierte Vers, besser, der Mittelvers, spricht ihn aus und bringt auch Bewegung ins Gedicht. Er fungiert als Spiegel der beiden dreizeiligen Strophen über und unter ihm, ausgelöst und frei. „Das ist das Spiel“ und stimmt dem „kein Entweichen“ zu, während es ihm schon widerspricht: Es schafft Spielraum und fasst doch zusammen, dass die Stunde ohne „Entweichen“ eintreten wird. Um welches Spiel handelt es sich? Das Spiel von Leben und Tod?
Eine Ferne so nah sie auch sein mag
„Die Stunde“ ist ein mildes, altes, an Begegnung, Tod und Liebe erinnerndes Wort. Wenn etwas bereit liegt, mag man sich seiner, das frei zur Verfügung steht, zum Gebrauch, zum Spiel wozu auch immer, annehmen, es annehmen. Auch dass von ihm die Güte ausgeht, seine Unausweichlichkeit im Voraus zu verraten… Oder steckt hierin nicht Ironie? Ein Schalk? Ein Zittern? „Es spricht mit uns, / dunkel und licht zugleich, / Unvergängliches ohne Dauer.“ Hier verdichtet das Gedicht Paradoxa, „dunkel & licht“ „Unvergängliches ohne Dauer“. Man kommt mit einer Wirklichkeit in Berührung, die unbekannt ist, nicht billig zu haben, gar nicht zu haben und doch im und als Gedicht erfährt man sie. Kein Begriff ist genug dafür, darum gibt es das Gedicht als eine*n Andere*n, anderen Ausdruck. Und es gibt keinen anderen Weg, dies zu erfahren – oder vielleicht doch? – etwas Unvergleichliches ereignet sich. Wie die Erfahrung einer Ferne so nahe sie auch sein mag (in Anlehnung an W. Benjamin) – auratisch? Alfred Kolleritsch bringt es wieder ein in eine Literatur, die sich vom Auratischen schon lange verabschiedet zu haben scheint. Die den Schein schon weitgehend aufgegeben hat, jenen vorher erwähnten. Und doch sind sie nicht hermetisch, wie man jetzt nach genauerer Lektüre bemerkt. Sie schließen sich nicht gänzlich ab, sind vielmehr dicht statt wasserdicht. „Es spricht mit uns“ heißt es im Gedicht. Ein Dialog ist also im Gang. Wer ist es? Sicher, „Unvergängliches ohne Dauer“. Und doch nicht nur. Und was ist dieses „Unvergängliche ohne Dauer“? Essenz? Substanz? Göttliches? Moment? In dieser Arbeit am Äußersten, an der Schwelle zwischen Immanenz und Transzendenz, erinnern die Gedichte an Samuel Becketts (Mirlitonnade, Flötentöne) Weg am Rand und über Grenzen hinaus. Und doch geht das „Unvergängliche ohne Dauer“ in keinen anderen der vorgenannten Dinge und Begriffe auf. Ist etwas a/Anderes („Es gibt den ungeheuren Anderen“ heißt Alfred Kolleritschs vorletzter Gedichtband). Geht auf das Andere zu, fordert es heraus. Darin liegt der Mut dieser Gedichte. Vielleicht doch noch ein Begriff? Immanente Transzendenz? Lieber zurück zum Gedicht. Und sich stören lassen. Denn darin liegt die Kraft und Milde dieser Literatur.
In memoriam Alfred Kolleritsch, der am 29. Februar 2020 in seinem 89. Lebensjahr verstorben ist.
Alfred Kolleritsch: „Die Stunde lag bereit“ in: derselbe, Die Nacht des Sehens. Gedichte. Mit einer Nachbemerkung von Michael Krüger. Göttingen: Wallstein Verlag 2020, S 47. (= Edition Petrarca. Hg. v. Hubert Burda, Peter Hamm, Peter Handke, Alfred Kolleritsch und Michael Krüger)