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Blindsee, Wildsee, Lichtsee: Verwandelter Schlaf

Blindsee, Wildsee, Lichtsee: Verwandelter Schlaf

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Michael Hammerschmid liest den Gedichtband See’len von Angelika Rainer


Breitzeilige, erzählende Gedichte sind es, die Angelika Rainer in „See’len“ vorlegt. In unterschiedliche Stophungen gegliedert. Was sie zum Schwingen bringt, ist der Ton und die Worte, die in die Texte eingewirkt sind. Ungewohnt ist dieser Ton, mit der nötigen Fremde ausgestattet, um staunen und fragen zu können. Die Gedichte sind auf dem Weg.“ Im ersten Teil des Gedichtbandes „Zehn Seen“ unterwegs im Gebirge und seinen Falten, Gruben, Löchern, den Seen, See’len, das Wort für namenlose kleine Seen, die entstehen und vergehen, und in den Tiefen von persönlicher und kollektiver Erinnerung. Jeder See eine Begegnung mit einer anderen Geschichte. Die Seen heißen unter anderem BLINDSEE, WILDSEE, MICHIGANSEE, SILBERSEE und LICHTSEE, aber auch SEE IN DER WERKSTATT MEINES VATERS, letzteres Gedicht geht von einem staubigen See-Gemälde aus, das der Vater, ein Tischler, einmal einem Maler an der Tür um vierhundert abgekauft hat (S. 27).  Die Seen sind spiegelnd und geheimnisvoll, was in ihnen und am Weg zu ihnen zu ergründen ist, ist dabei allerdings nicht weniger als alles, das, was ist und war, und was in der Poesie wird. Im Grunde sind die Gedichte Angelika Rainers poetische Forschungen am Äußeren und im Inneren der Erscheinungen. Ein phänomenologischer Zug kommt in ihnen zur Wirkung. Sie gleichen einer kleinen Phänomenologie der See’len, einer Seelenkunde dessen, was sichtbar und unsichtbar ist. 

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Hirtentäschchen, Schingelgras und Schneebeeren

Dass der Weg zu ihnen mit ins Bild der Gedichte gesetzt wird, macht sie zugänglich, gibt ihnen eine wache Alltäglichkeit. Fast möchte man an Dantes Weg in der Commedia denken. Das erste titelgebende Gedicht setzt ein mit „Der Weg war lang, schmal, mehr Rinne als Weg, wir konnten nur / einen vor den anderen Fuß setzen.“ (S. 9) Wir gehen mit. Das „wir“ des Gedichts ist ganz alltäglich und doch entfaltet sich die Gedichterzählung erst in der Amalgamierung verschiedener Wissensfundi. Da ist zum einen die große Wortgenauigkeit, die wie anfangs angedeutet, den konkreten Raum bezeichnet. Wir begegnen etwa in diesem ersten Gedicht dem „Kummseggenrasen“ (S. 9), „Daphnien, Kiemenwürmchen, Stille, Erbensmuscheln oder nichts?“ Hier wird deutlich, wie Angelika Rainer verschränkt, kombiniert, das poetische Potential der Worte nützt. Dann tauchen wieder in Aufzählung noch „Fischkutter, Hirtentäschchen, Schingelgras und Schneebeeren“ auf. Diese Worte bringen die Gedichte zum Leuchten, phosphoreszieren im Textfluss. Zugesellt sind den Fundstücken der wachen Augen und gewussten Worte, Geschichten wie Sagen, Märchen und Mythen. Erst das Zusammentreffen der verschiedenen Wissens- und Erfahrungsfundi gibt die Poesie der Gedichte frei. Ein Hauch von altertümlicher Sprache und Zauberei wandert als Grundstimmung durch die Gedichte, die sich mit der unverstellten Beschreibung in der Situation des entdeckenden Ichs nicht spießt. Hier zwei Beispiele für den „altertümlichen“ Ton: „Ungesehen darf er sich nie meinen, der Mensch.“ (S. 9), oder „Einst hat es hier kein Wasser gegeben, aber Eidelsteine, Himbeeren und / Pilze.“ (Ebda.) Wir sind in der Sage, „Die Fremden sollten nicht mit der Hirten Hab und Gut von dannen ziehen.“ (Ebda.), sie fügt sich in die Erzählung des Sees, der See’le ein.

Welten begreifen

Dabei entsteht ein Nebeneinander, aber auch ein Zusammenfließen der unterschiedlichen Arten, Welt/en zu begreifen. Die Textur der Gedichte bleibt gleichzeitig offen, atmet, nimmt auf und an, und geht weiter, sodass die meist mehrteiligen Gedichte im Zyklus eine fragmentarische Erzählung ergeben, so wie jedes einzelne Gedichte etwas von einem Fragment hat. Das Gerüst der Gedichte wird aber vor allem durch das Beschreiben und Benennen erstellt, wobei alles an jeder Stelle ins Metaphorische, auch Imaginäre ausschlagen kann. „In einer erdigen oder felsigen Wanne, in einer Falte der Erde ist der See / ausgebreitet. / An seinen Ufern, in den Lidwinkeln des Auges lagern Schlafsand, / Augensteine, verwandelter Schlaf, Gestalt gewordener Traum.“ (S. 14) An einer Passage wie dieser aus dem Gedicht „AUGE GOTTES“ lässt sich gut ersehen, wie die Beschreibung in die metaphorische Traumbeschreibung jäh übergehen kann; sie lassen sich voneinander nicht trennen. Und doch ist die forschend, detailgenaue Aufmerksamkeit des Ich stets zugegen, sodass das Erfahrene, das zu Erfahrene nicht ins Nebulöse absinkt und dort verschwindet. 

Unbeantwortbare Fragen

Einen besonderen Reiz der poetischen Recherche Angelika Rainers, einer derzeit noch weitgehend Unbekannten auf der Landkarte der Gegenwartslyrik, liegt im Fragemodus der Gedichte. „Macht man, je länger das Leben dauert, die Augen mehr und mehr zu – / so wie die Sonne die Sterne langsam verschlingt, tageweise, um eine / Fingerbreite nur, oder gar nur eine halbe, bis der Stern verschwunden ist?“ wird einmal gefragt, oder aus Seite 15:

Gibt es die blinden, nicht erreichbaren Gründe? 
Wo halten sich Erschütterung und Kränkung auf? Müssen sie sich aufhalten?      Werden sie tatsächlich in den Tiefen bewahrt und müssen nur angerie-
ben werden wie Eukalyptushütchen, die nach Jahren noch zu duften 
beginnen? 

Es sind die – scheinbar?, wahrscheinlich?, sicher? – unbeantwortbaren Fragen, die aufgeworfen werden, ja aufgeworfen werden müssen. Man soll es sich nicht leicht machen, bedeuten sie. Man muss wissen wollen, die Gedichte wollen es! An dieser Stelle zeigt sich auch schön, wie konkretes Natur-Wissen einfließt und jeden Verdacht auf oberflächlich philosophisches Geschnurre zur Seite wischt: Das muss man schon wissen, dass Eukalpytushütchen nach Jahren noch zu duften beginnen, um es aufschreiben zu können. Und es verwundert dennoch nicht, dass die Dinge und Erscheinungen selbst Auskunft geben können, da sie nicht in die Logik einer Wissenschaft, einer einzelnen Wahrnehmungsweise eingesperrt werden. Der Anfang von MICHIGANSEE (S.21):

Das Bächlein wird gestaut zum See inmitten von Bäumen. 
Der See erzählt von 

Taupunkt und Goldglanz 
Wasseradern und Aderlässen 
Ufersäumen und Wetterbäumen 
Reif und Weiden 
Blutegeln und Blutschnee* 

Und wir erfahren am Seitenende: *roter Schnee, es hat vom Roten Turm herab gestaubt, oder Grünalgen haben den Sommer überdauernden Schnee rot eingefärbt.“, wobei wir wieder bei der Genauigkeit sind. Erinnerung, persönliche Erinnerung, Erklärung, Beschreibung, Fachwissen, Fragen, die schon erwähten Legenden, Geschichten, sie alle erzählen mit.

See Also

Zwischen den Gattungen

Es ist diese Vielfalt, die die Gedichte Angelika Rainers, von der Einfalt mancher Mode, Gedichte zu machen, unterscheidet; sie aber dabei auch zu Schwellenwesen macht, zwischen den Genres, zwischen den Modellen, Welt/en zu begreifen. Poesie. Die beiden Folgezyklen im Gedichtband, zusammengefasst unter dem Titel „NARZISS UND ECHO“, die die zweite Hälfte des Buches ausmachen, nehmen das See(le)n-Spiegelmotiv auf und deklinieren es im Innenraum des Mythos. Abeschlossen wird der Band mit dem Gedicht „VON DER SEELE / oder / Kleine Wonnen, aus denen die Sorge lugt“, das sich noch einmal der großen Fragen annimmt, und doch weiterhin im einfachen Nächsten ansetzt: „Einmal, ich war noch ein Kind, sah ich die von mir selbst aus grauer / Wolle gestrickte Mütze mit roter Zopfbordüre auf einem anderen Kopf: / Da hatte die Mütze plötzlich eine Seele bekommen.“ Und weiter heißt es, von dieser lyrischen Prosa ins gleichso Lyrische wie Schalkhafte wechselnd (S.79):

Wir vernehmen
der Seele Fragen, der Seele Graben, 
der Seele Zwist, der Seele List 
der Seele Zittern, der Seele Wittern 
undsoweiter. 

Und dann geht es ganz anders weiter, von „Wir sehen es nicht. Es aber sieht uns.“ (S. 80) bis „Es taut, es schneit Silber.“ (S. 82) und das ist nur der drittletzte Vers des Gedichts, der hier neugierig auf all die anderen Verse machen soll, womit dieser ungewöhnliche Gedichtband herzlich empfohlen sei. 

Angelika Rainer: See’len. Innsbruck – Wien: Haymon 2018. 84 Seiten

Hinweis: Angelika Rainer liest aus „See’len“ beim Internationalen Lyrik-Festival „Dichterloh“ in der Alten Schmiede gemeinsam mit Klaus Merz und Kurt Aebli am 19. Jänner 2021 (19h).

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