Daniela Chana liest den Gedichtband Ousia von Verena Stauffer
Kopf ist eines der am häufigsten vorkommenden Worte auf den ersten Seiten des neuen Gedichtbands von Verena Stauffer, und das erscheint mehr als passend. Stauffer ist als Autorin definitiv kein Bauchmensch, sondern lädt uns mit „Ousia“, das 2020 bei kookbooks erschien, auf ein intellektuelles und sprachtechnisches Spiel ein, und wer da beim Lesen nicht mitkommt, steht am Rand und wird beim nächsten Mal wahrscheinlich nicht mehr in die Mannschaft gewählt.
Wiederholt begegnen uns zu Beginn also Köpfe: Angefangen von Männern, die ihren Frauen die Köpfe tauschten, über Erzählungen „die das ganze Land hört und die der Wind in alle Köpfe trägt“. Später treffen wir auf Samen, Flüsse, Pflanzen und abgeschiedene Welten aus Eis. Die zahlreichen Landschaftsbeschreibungen sind bei Stauffer nie romantisch-verklärt, sondern bergen oft einen Schrecken und erinnern in ihrer mikroskopischen Genauigkeit an eine Naturdokumentation, in der jedes Blatt, jede Faser genau betrachtet wird. Motivisch zieht es die Autorin oft in das Menschenverlassene, die Abgeschiedenheit, wo niemand spricht. Vielleicht sind das die Orte, an denen sie das aufspüren möchte, was der Begriff „Ousia“ meinen kann, nämlich das Sein oder das Wesen, die Substanz.
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Beim Lesen Zeit gewinnen
Immer wieder sind es die Sprache und das Schreiben, die als Anker erscheinen: Worte werden in Quellen geworfen, „damit sie eines Tages münden“, „ein Vers wird / auf den Mars übersetzt“, „[u]nd die Worte sind Kapseln“. Zwischendurch blitzen erstaunliche Erkenntnisse auf, die von der schillernden Vieldeutigkeit der Worte leben und deswegen vielleicht für immer im Gedächtnis bleiben:
Niemand weiß, wie tief der Schlamm reicht, denn aller Grund kämpft gegen Oberflächen und alle Oberflächen kämpfen gegen Grund.
Das Lesen dieser Gedichte verlangt Sorgfalt, dennoch fühlt es sich nie so an, als würde dabei Zeit vergehen, sondern als würde welche gewonnen werden. Die Lektüre ermöglicht eine Auszeit vom Lärm rundherum, wenn auch gewiss keinen Müßiggang. Momente der Verspieltheit tauchen dennoch auf: An einigen Stellen überrascht die Autorin mit kinder- oder volksliedartigen Reimen und Rhythmen.
Gedichte wie Räume
In „Ousia“ wird nicht vom Vertrauten erzählt, nicht vom Alltag, stattdessen werden wir beim Lesen in die Fremde – präziser: in viele Fremden – entführt. Stauffer, die in Wien, Berlin und Moskau lebt, sucht in ihren Texten die sowohl räumliche als auch zeitliche Ferne, macht zahlreiche Welten auf, die wahrscheinlich nur die wenigsten von uns bisher gesehen haben. Wer ist schon jemals einem Fischer in einer eisigen Abgeschiedenheit begegnet?
An vielen Stellen fühlt sich die Lektüre des Bandes an als würde man durch ein historisches oder naturkundliches Museum gehen, was in Zeiten geschlossener Kultureinrichtungen einen besonderen Reiz hat. In der Fantasie sieht man sich selbst, wie man durch die Räume wandelt, die bunt gemischten Exponate betrachtet und Wandtexte liest, sich Gedanken und Notizen macht und sich vornimmt, dieses und jenes Thema nachher intensiver zu studieren, Bücher darüber zu lesen oder zumindest im Internet zu recherchieren, es gar zu einem neuen Hobby zu machen. Wenn es im Nachhinein nicht dazu kommt, ist dies weder dem Museum noch der Autorin eines Gedichtbands anzulasten; es ist das Dilemma von Räumen, in denen große Mengen von Wissen nebeneinander verfügbar sind, sodass ab einem gewissen Punkt die Auswahl schwerfällt, welches wir weiter vertiefen wollen.
Der große Vorteil des Gedichtbands aber ist, dass wir ihn immer wieder zur Hand nehmen können, ohne eine neue Eintrittskarte lösen zu müssen. „Ousia“ ist geeignet, um lange Zeit griffbereit auf dem Nachtkästchen zu liegen, immer wieder aufgeschlagen zu werden, sich auf die Vielfalt und das philosophische Spiel einzulassen, bisher übersehene Aspekte darin zu entdecken und die Gedichte jedes Mal neu und jedes Mal anders zu verstehen. Ein Kunstwerk, das so eine Erfahrung hergibt, hat hohe Anerkennung verdient.
Verena Stauffer: Ousia. Gedichte. kookbooks, Berlin, 2020. 120 Seiten, Euro 20,50.