Verena Stauffer über den neuen Gedichtband von Lidija Dimkovska, die am 12.1. beim Lyrikfestival Dichterloh lesen wird.
POESIEGALERIE in Kooperation mit der ALTEN SCHMIEDE.
Welche Türen öffnen Gedichte? In wie viele Wesen kann ein lyrisches Ich schlüpfen? Ist es etwa ein Gespenst? Steigen Lidija Dimkovskas Texte langsam aus dem Vadar oder aus dem East-River? Durch wie viele Länder schleifen sie ihren blutigen Saum? Haben diese Verse mit der Heimat ihrer Verfasserin, Nordmazedonien, überhaupt noch viel gemeinsam, oder bewegt sich die nun in Slowenien lebende Dichterin an den wohl vertrautesten Orten ihrer Kindheit und Jugend selbst nur mehr als Touristin, wie es auch in ihrem Text „Rückkehr“ beschrieben ist? Wer in seine Heimatstadt rückkehrt, heißt es da, der begreift, dass er keine Heimatstadt mehr hat.
Das soll nicht irreführend sein, denn ich möchte eben nicht fragen, wo die Verse verfasst wurden, sie nicht durch diesen Text geografisch eingebettet wissen, sondern vielmehr freilegen, aus welcher Sprechhaltung heraus diese Gedichte geschrieben sind. Das lyrische Ich des Bands mit dem Titel Schwarz auf wei?, im Original: црно на бело (crno na belo), erschienen in der Parasitenpresse 2019, muss aus unterschiedlichen Ansätzen heraus aufgefächert werden, denn es spaltet sich innerhalb der verschiedenen Texte so weit auf, dass es in viele unterschiedliche Personen und Situationen zu schlüpfen vermag. Nicht nur das, es springt auch in Zeiten und der Geschichte der Welt herum, hüpft, so ist es zumindest als Leserin vorstellbar, auf einem scheinbaren Riesentrampolin der Erde von den Lebenden zu den Toten.
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Auf dem Weltentrampolin der Gedichte
In diesem obwohl optisch sehr zarten Band wird nichts ausgespart, weil es zu hart sein könnte, gleichgültig aus welcher Sicht beleuchtet oder besser durchleuchtet wird, denn nach oberflächlichen Beschreibungen von Landschaften oder Äußerlichkeiten wird man vergeblich suchen, nichts verharmlost die Autorin, nichts, was das Leben und Sterben, die Lebenden und die Toten betrifft.
Die Harnblasen der verstorbenen Neugeborenen waren die widerstandsfähigsten Ballons der Welt, die Suppe aus dem gealterten Hahn wollten nicht einmal die Schweine fressen, am Boden des Seifenkessels erschien unerwartet ein Regen bogen.
So gibt es auch einige wenige Stellen Beschreibung, durch welche die Lesenden eine Ahnung von der Kindheit der Dichterin in Nordmazedonien erhalten. Sie sind rar, stets folgt ihnen ein Sprung, als befände man sich auf einem Weltentrampolin, als schwebe man plötzlich mit dem jeweiligen Ich in der Luft, blicke aus der Gottesperspektive auf die Erde, stürze im nächsten Augenblick tief hinab, um mit einem Mal verstorbener Sohn, Vater, Ehemann zu sein, der vom Grab aus herausdenkt und die Leserin an seinen Gefühlen teilhaben lässt.
Im Asylantenheim der Selbstmörderinnen
Im Gedicht „Asylanten“, das durch Duktus und Thematik mit der US-amerikanischen Dichterin Bianca Stone und dem Auftakttext ihres Bands The Möbius Strip Club of Grief verglichen werden kann, unterscheidet Dimkovska im Reich der Toten zwischen eines natürlichen Todes verstorbenen Menschen und Selbstmörderinnen, die im Zuhause der normalen Toten nicht gern gesehen sind, sondern in einem Asylantenheim untergebracht werden, während es bei Stone heißt:
Then the dead are sitting at the back of the club, dying further. Sniffing. Shuffling into the bathrooms, holding their skin in their hands, farting methane and sobbing across the stage with their last meal––it’s the raciest show in town. And ladies, there’s men, too, (…)
Dimkovska fragt in ihrem Gedicht nach dem Status von Selbstmördern als Tote zweiter Klasse. Das lyrische Ich, im Gedicht selbst seit einem Tag unter genau jenen Verstorbenen, erhielt zwei Passierscheine, tagsüber hält es sich im Tageszentrum für Asylanten auf, nachts im Zuhause der gewöhnlichen Toten.
Doch beide Dichterinnen zeichnen Bilder einer Zwischenwelt, einer Pufferzone, welche sich ganz sicher nicht im Himmel befindet. Stone: Ladies, you’ll love how their feet smell. How their / bones protude. How they leave no note. Bei Lidija Dimkovska klingt es, wie folgt:
Unter der Erde befindet sich das größte Asylantenheim. Dort sind die Selbstmörder untergebracht, Emigranten ins Jenseits, nicht akzeptiert, unterdrückt und gequält im Diesseits. Das unterirdische Asylantenheim bietet Bewegungsfreiheit von der Peripherie ins Zentrum und wieder zurück, drei Mahlzeiten am Tag und täglich einen Passierschein für den Spaziergang. Die Asylanten tragen Konfektionsgrößen auf ihren Armbändern. Aber sieh da, die gewöhnlichen Toten treten in den Hungerstreik gegen die Überzahl von Selbstmördern um sie herum. Sie wollen keine Asylanten in der Nähe ihrer adretten Häuser, sie wollen keine herumliegenden Schlingen, keine leeren Medikamentenfläschchen, keine gebrochenen Knochen vom Sturz und keine aufgeblähten Bäuche vom Ertrinken
Das Souverän der Dichterin
Mit wem sitzt die Dichterin da am Tisch, zerlegt Würfel, schnapst sich die Perspektiven aus, geht so weit, dass sie sogar ihrem eigenen Grab beim Verschwinden zusieht? Sie schreibt aus einer herausfordernden, wilden und in jedem Fall neuen Position.
Ist es etwa ein Einschleichen der Lesenden durch die Lyrikerin in andere Wesen? In diesem Prozess fungiert sie nun selbst als Pufferzone, in der das Souverän der Dichterin zwischen den vielen lyrischen Ichs und den wechselnden Subjekten erspürt werden kann.
Abgesehen von diesem bewusstseinswechselnden Trip geistert jedoch das Verb „moralisieren“ während des Lesens immer wieder durch den Kopf und ich denke erneut an den Titel des Bands, der Rückhalt für eine Art von immanent spürbarer Werte-Haltung der Texte sein könnte. Schwarz auf weiß, klar, das scheinen auch diese Texte malen zu wollen, jedoch nicht schwarz auf weiß, sondern schwarz oder weiß. Soll das vielleicht Zweifel an der eigenen Selbstgewissheit säen oder ist es manifestartig gedacht?
Nicht nur die starken Bilder sind es, die sich in die Erinnerung einprägen werden, sondern auch Augenblicke der Leseerfahrung, die gar nicht so leicht beschrieben werden können, dennoch einer jeden konzentrierten Leserin bekannt sein müssen.
Ein Beschreibungsversuch:
Es ist das, was Sprache auch zu Kunst macht, es sind Verse, in welchen die Sprache nicht mehr nur als Handwerk fungiert, das zur Artikulation und Verständigung dient, sondern durch welche sie gleichsam ins Bewusstsein eintritt, um dort einen Moment der Erhellung, der Klarheit, der Erweiterung zu erzeugen. Es ist dort, wo das Dunkle im Selbst plötzlich zum fluoreszierenden Regenbogen wird. Jenes Zimmer im Körper, dessen Tür keiner kennt, die nur durch Dichtung geöffnet werden kann, dann aber schwingen auch alle Fensterflügel auf und sprühende, spritzende Farben flitzen durch die inneren Gänge und Säle.
Es ist damit auch die Erhellung von Vorbewusstem gemeint, von noch nicht Gedachtem, aber Gefühltem, das mit einem Mal durch die Verse zu etwas wird, das tatsächlich existiert.
Das Zimmer im Haus des Bewusstseins mag bei der Lektüre von Schwarz auf weiß mehrmals seine Türen öffnen. Für Augenblicke wird es so groß, dass es über die Leserin hinausgeht und sie sich in ihm verliert, wenn sie es zulässt.
Lidija Dimkovska schreibt Lyrik und Romane. Ihr Übersetzer, Alexander Sitzmann, erhielt 2016 den österreichischen Staatspreis für Übersetzung, ich danke ihm für sein Gespräch mit mir, über seine Zusammenarbeit und seine Eindrücke die Dichtung Dimkovskas betreffend.
Lidija Dimkovska: Schwarz auf weiß. Gedichte. Aus dem Mazedonischen von Alexander Sitzmann. Parasitenpresse 2019.
Lidija Dimkovska, *1971 in Skopje, lebt als Lyrikerin, Prosaautorin, Essayistin und Übersetzerin in Ljubljana. Seit 1991 sechs Gedichtbände und drei Romane. Weitere Publikation auf Deutsch: Anständiges Mädchen. Gedichte. Übersetzt von Alexander Sitzmann, Edition Korrespondenzen, Wien, 2010.
12.1.2021
Di, 19:00
YOUTUBE-KANAL DER ALTEN SCHMIEDE
Dichterloh: Max Czollek, Lidija Dimkovska, Wjatscheslaw Kuprijanow
Gesellschaft in poetischer Verwandlung
Max Czollek*: Grenzwerte.
Lidija Dimkovska: Schwarz auf weiß.
Wjatscheslaw Kuprijanow*: Ein Denkmal für unbekannten Feigling.
* Die Autoren werden per Video live zugeschaltet.
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