Martin Kubaczek liest den Gedichtband Satyr mit Thunfisch von Astrid Nischkauer
Ein Buch über Bilder und ihre Wahrnehmung: Wie lesen wir in Bildern? Was finden, was entdecken, was sehen wir in ihnen? Von John Berger haben wir gelernt, wie und was wir aus unserem Blick auf Bilder erfahren können. Nischkauers scheinbar kleines, scheinbar beiläufiges Buch zu rezipieren, kann einem weiter die Augen öffnen – mal für das Ganze, mal die Situationen, mal die Details. Immer aber ist es das Figurative, das sich in den Text überträgt, selbst in der Abstraktion wird das Atmosphärische, die Komposition spürbar, fließend zusammengesetzt zu einer Satz-Miniatur.
Aus den Texten wird spürbar und sichtbar, wie die Autorin als Besucherin oder im Job als Aufsichtsperson vor Ort verweilt, in der genauen Wahrnehmung und Geduld dieser Texte, die auf dreizehn verschiedenen Sammlungen und Museen verweisen – die Bildtitel konkret angesprochener Gemälde finden sich kursiv unter den Text gestellt. Man könnte mit dem Buch in der Hand also die Wiener Museen begehen und vor den Bildern und Gemälden stehen, Vergleiche anstellen mit dem, was einem auffällt und dem, was die Autorin aufgreift, worauf die Gedichte reagieren, was sie entnehmen. Meist sind es Momentaufnahmen und Details, die wirksam werden, kleine figurative Elemente, ein Blick, eine Geste, die der Text wie das Gedicht „Jean Dubuffet, hommes et arbres somnanbuliques“ (S. 77) aufgreift:
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träumen die Menschen davon Bäume zu sein oder die Bäume davon Menschen zu sein die Menschen träumen mit offenen Augen doch die träumenden Bäume sehen glücklicher aus das Bild das Relief kommt mir entgegen ich möchte meine Hand auf die Farb- Gebirgslandschaft legen den Talrinnen mit meinen Fingerspitzen folgen und das träumende Bild so schlafwandlerisch mit geschlossenen Augen betrachten
Nischkauer betrachtet die Bilder in ihrer Atmosphäre und Umgebung, die im Raum aus in ihrem Rahmen sprechen, wir folgen ihr über knarrendes Parkett und steigen über Gegenstände, folgen ihr auf Aufsichts-Runden, nehmen andere Museumsbesucher und das Personal wahr, mal im Gedränge, mal in atmosphärischer Stille an sonnigen Sonntags-Nachmittagen, in einer Ecke sitzend ist eine Kollegin eingenickt, das aufgeklappte Buch auf dem Schoß. Das alles bleibt unaufdringlich transparent, berührt weich und luzid. Es sucht kein Rätsel oder Mysterium, das bloße Dasein ist ihm schon unverständlich genug. Oft genügt ein einziger Satz, der als schnörkellose Engführung einen syntaktischen Spannungsbogen bildet. Klare, schlanke Texte entstehen so, knapp und effizient vollziehen sie ihre Ökonomie, eröffnen Zugang und Einsicht.
Die Autorin geht ins Bild, spricht aus dem Bild, mit seinen Figuren, nimmt ihre Positionen ein, wechselt die Blickrichtung, schaut aus dem Bild in den Raum, oder der Blick wandert hinaus gegen das Licht im Fenster, wandelt durch Räume und Hallen. Jedes der Gedicht leistet etwas: Es stellt eine Beziehung her, nimmt die Bilder und Objekte unbefangen und unvoreingenommen wahr, offen und neugierig, in Erwartung des Sich-Erweisenden. Die Szenen werden ohne Wertung oder Urteil benannt, sie leben von der Unmittelbarkeit, suchen den Kontakt zur Bildgeschichte, werden Teil seiner gemalten Wirklichkeit. Nischkauer versteht deren Kongruenz, ihre Schlüssigkeit oder das Rätsel, das ein Bild aufgibt, wie eine Frage, die heraus in den Raum tritt, als unerklärliches, mysteriöses, nicht beantwortbares Detail.
Das Gedicht ist Notat, entspringt der Selbstbeobachtung: Was berührt mich, was passiert, was erlebe ich hier. Mal ist es räumlich-situativ, mal tritt die Autorin nah heran, erfasst die Maltechnik, beschreibt die Wahrnehmung, setzt in körperliche Beziehung, fingernagelgroße Farbtupfer werden sichtbar als abstrakte Miniaturen, die sich wie in „Paul Signac, Antibes, die Türme“ (S. 87) zusammensetzen zu einem realistischen Gesamteindruck:
zu nahe bin ich dem Bild das sich auflöst in annähernd gleich große Farb- Rechtecke jedes Rechteck davon ein Bild für sich so groß wie der Nagel meines kleinen Fingers
Es ist die einfache Struktur, die diese Texte prägt, ein Einstieg, der oft zu seinem Ende hin einen Bogen schlägt, häufig von zwei Wörtern, Gegensatzpaaren, geprägt, mitunter paradox, im Sinn einer Lösung oder Selbst-Aufhebung: „was das Bild zeigt/ ist die Abwesenheit“ (Frau am Fenster, S. 48), bilden sich Dichotomien, Kippbilder, Spiegelungen, häufig vollzieht das Gedicht einen Bogen von einem Eingangs- zu einem Endterminus, etwa zwischen Beteiligung und Anteillosigkeit (Jan van Goyen, S. 47). Da ist ein Bild, das von seinem Rahmen nichts weiß (S. 44), findet sich eine Engführung der Gegensätze (S. 39) oder ein Umkehrschluss (S. 38), ein Kreisen in sich („ein Ring ist ein Ring,/ auch ohne Finger,/ der ihn trägt“, S. 16) Da ist die Fröhlichkeit der bunten Wäsche zu Beginn, während der Fluss nur die Trostlosigkeit spiegelt (Schiele, S. 52), oder die Gedichte folgen einer vertikalen Achse: Sturzflug und Angriff versus Ruhe der darunter Lagernden (Samurai-Rüstungen im Weltmuseum, S. 49). Da fällt ein Blick in den nicht genutzten Raum im Museum und sucht sofort nach Anhaltspunkten – Schalter, Schilder mit Hinweisen werden lesbar als Kunstobjekte – „ein leerer Raum/ im Museum ist/ kein leerer Raum“ (S. 28).
Die Gedichte erweisen sich als kleine geometrische Figur oder als Gebärde, sind in sich kohärent als stimmiger Ausgang und situativer Reflex. Sie bleiben wach und aufmerksam, überraschen immer wieder in neuer Weise, nichts wiederholt sich, es gibt keine Redundanzen, die Gedichte sind effektiv und ökonomisch gestaltet, „schlenkern“ nicht (wie das in Walter Benjamins kurzem Text „Gut schreiben“ heißt), sondern führen direkt zum Punkt dessen, was sie sagen oder zeigen wollen, sind punktgenaue Ziellandungen: sie dauern bloß ein paar Sekunden vom Absprung bis zur Landung, und öffnen sich mit einem kleinen Ruck, der uns auffängt, schaukelnd und schützend trägt, sicher absetzt und entlässt. Dann schaut man nochmals hinauf an den Beginn, und sieht, wie bewusst hier alles in seine Gestalt gebracht ist.
Astrid Nischkauer: Satyr mit Thunfisch. Gedichte. Parasitenpresse, Köln 2018, 90 Seiten, 12 Euro