Peter Clar liest Virusalem von Helmut Neundlinger
Dass Coronavirus-, Pandemie- und Lockdowntexte kommen werden wie das Amen im Gebet, das war schnell klar. Dass dabei die frühesten selten die hochwertigsten sein werden, war zu befürchten. Nun aber ist bereits ein wenig Zeit vergangen und also besteht die Hoffnung, dass sich mehr und mehr gehaltvolle Auseinandersetzungen mit der Bedeutung dieser weltweiten Krise finden werden, einer Krise die uns und unser Gesellschaftssystem, wenn auch vielleicht nicht zu verändern, das muss sich erst zeigen, so doch zu erschüttern vermag – und mit ihm unsere Selbstwahrnehmung. Diese Selbstwahrnehmung, und sei es mittels der Wahrnehmung des (vermeintlich) anderen, ist es auch, die viele der Texte Helmut Neundlingers Virusalem grundiert, der sich nun mit einem Lyrikband zum ‚Thema Nr. 1‘ hervorwagt. Schon der Titel kann nicht nicht auf die pandemische Situation verweisen, in der wir uns seit über einem Jahr befinden, ebenso wenig wie der Untertitel Gesang aus dem Bauch des Wals, der sowohl das Gefangensein impliziert als auch die mit der biblischen Geschichte durch eben diesen Wal erzwungene Rückkehr Jonas auf den ‚richtigen Weg‘. Und apropos richtiger Weg: Auch der den Weg weisende Text auf der Rückseite des Buchs zeigt eine Verbindung der in dem Buch enthaltenen Texte „mit der aktuellen Krise“ an.
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Nicht eingelöstes Versprechen
Während aber auf den ersten Blick alles eine Textsammlung verspricht, die die Coronapandemie fokussiert, lösen die Texte (es handelt sich dabei keineswegs nur um Gedichte) dieses Versprechen nur selten ein, scheinen vielmehr im leeren Raum und einer Zeitlosigkeit zu schweben, die trotz mancher Bezüge zur Gegenwart nicht wegzudiskutieren scheint. Womit der Hauptkritikpunkt an dem Band schon formuliert ist. Denn dass Helmut Neundlinger mit Sprache umzugehen versteht, hat dieser vielfach bereits bewiesen und beweist es auch in diesem Lyrik-Kurzprosa-Mischband immer wieder. Doch wieso uns dieser Band, erschienen mitten in einer Pandemie, als Virusalem verkauft wird, bleibt, mir zumindest, ein Rätsel, ein Rätsel das leider, zumindest bei der ersten Lektüre, vieles überdeckt, was die Texte zu bieten haben. Freilich kommen in den Gedichten des exakt beobachtenden lyrischen Ichs immer wieder Stellen vor, die auf die Gegenwart verweisen: Die fehlenden Flugzeuge werden beispielsweise ebenso thematisiert [„Der Himmel leuchtet anders, / seit er nicht mehr von der Gischt / der Luftschiffe zerfurcht wird“ (S. 9)] wie der Rückgang der Grippe im Gedicht „Fieberkurve“ (S. 10) etc. Und natürlich könnte man die Bezogenheit des lyrischen Ichs auf die unmittelbare Umgebung wie auf den eigenen Körper ebenfalls als Folge der Pandemie deuten:
Körperregierung Hast du deinen Körper je wahrgenommen als dein dir gegebenes, täglich zu pflegendes Nächstes? Morgen weckst du ihn auf, wäschst und kleidest ihn, fütterst und tränkst ihn wie ein liebstes Nutztier, führst in ans Licht an die Luft. Er darf sich entfalten, aufnehmen und abgeben in seinem Rhythmus. Wenn alles so läuft, wie du dir vorstellst, lässt du die Zügel schießen, du weißt, wie er dich wachhält. Du brauchst ihn nicht ständig im Blick haben, es reicht, wenn du ihm hin und wieder über die Schulter schaust und ihn auffängst, falls etwas sein sollte. Falls. Etwas. Sein. Sollte. (S. 17)
Nicht nur schöne Sätze
Es sind nicht nur schöne Sätze [„Ich habe das Schlafen verlernt, / um nicht träumen zu müssen“ (S, 15)] die Neundlinger gelingen, sondern er schafft es durchaus, die Gefühle von Monotonie, von Alleinsein, von Stillstand zu erzeugen – die wohl viele von uns im letzten Jahr mal mehr mal weniger erfasst haben; die aber viele von auch uns immer wieder auch ohne eine Krise wie der momentanen erfassen. Und so bleibt, sich in den Vordergrund drängend, immer wieder die Texte überlagernd, beständig die Suche nach der Antwort auf die Frage: Warum? Warum die zarten, unaufgeregten, manchmal (und das sei hier absolut wertfrei gesagt) ans Banale grenzenden Alltagsbeobachtungen, dieses genaue Hinhören auf den Körper einleiten (und überladen) mit dem Titel „Virusalem“? Warum den schön surrealen Prosatext aufsplittern und mit bedeutungsschwangeren Zwischenüberschriften wie „Präludium (Protokoll)“ (S. 4) versehen, um ihn als Klammer, als Unterbruch und als Kontext zu positionieren, obwohl kein Zusammenhang zwischen diesem und den Gedichten ersichtlich wird? Und wie genau passen die zwei Abschlusstexte ins Bild, zum Rest? Selten wurde die Weisheit, dass das Ganze mehr sei als die Summe seiner Teile so konsequent ad absurdum geführt wie in diesem Band. Und das ist schade. Denn wenn man die von dem Buch selbst erzeugte Erwartung, dass wir es hier mit einer poetischen Verdichtung einer der größten Gesundheitskrisen zumindest in Europa wenn nicht weltweit zu tun haben, zurücknimmt, wenn wir davon Abstand nehmen, das versprochene und nicht eingehaltene große Ganze zu suchen, dann, ja, dann findet man mehr als ‚nur‘ die eine oder andere Sprachperle. Dann findet man neben einen schönen, mit Versatzstücken apokalyptischer Dystopien spielenden und diesen ironisierenden lyrischen Kurzprosatext ebenso, wie präzise, unprätentiöse Kurzbeschreibungen des Alltäglichen in Lyrikform, dann finden sich Texte, die analytisch wie poetisch die (vermeintlich unvermeidliche) Zurückgeworfenheit der Menschen auf nicht-haltbare Kategorisierungen (ich – du – wir – das andere) und/oder auf die eigene Körperlichkeit zeigen ebenso, wie Sätze wie diesen: „Die Farben des Himmels, bringen einander zum Schweigen.“ (S. 21)
Helmut Neundlinger: Virusalem. Gesang aus dem Bauch des Wals. Müry Salzmann, Salzburg 2020. 80 Seiten. Euro 19,-