Gerald Jatzek
Die Geschichte Wo Irland keinen Westen mehr hat, weiß am Abend jeder etwas zu erzählen: die Geschichte von den Liebenden, die eines Tages im Hafen auftauchten, bunt wie die Tinkers, die lachten und tranken und abends von den Klippen sprangen. Es heißt, er hatte die falsche Religion. Und die Geschichte vom Hunger. Die Geschichte von der Banshee, sie kam aus Mayo und begrub ein Kind mit wenigen Wochen. Das zweite starb in ihrem Bauch. Auf dem Totenbett zerbiss sie einen Knebel. Sie fluchte und ging ohne Segen und Zeit für Klagen. Seither stopfen sich die Priester Wachs in die Ohren, wenn der Mond voll ist. Und die Geschichte vom Hunger. Die Geschichte vom Helden im Keilgrab. Bei jedem Aufstand hofften sie vergebens auf sein Schwert. Die Geschichte vom blinden Druiden, dem Vogelmann. Sein Schild brachte die Nacht, und sein Stein war Verderben. Neunzehn Könige kamen und gingen, doch keiner konnte ihn beugen. Und die Geschichte vom Hunger. Die Geschichte vom versteinerten Fiedler, der die Tochter des Druiden zurückwies, und die Geschichte vom Winter, der das Meer zufrieren ließ. Die Geschichte vom neunzehnten Ritter von Kerry, dem Schöngeist, der Handschuhe trug und mit Orchideen. sprach. Der Golfstrom öffnete die Blüten beinahe obszön, als die Kartoffeln faulten. Und die Geschichte vom Hunger. Die Geschichte vom Kabel, tief unter dem Ozean. Nach dem fünften Versuch strömten die Börsenkurse von London nach New York. In der Nacht summten die Stimmen der Kinder unter den Walen. Die Eltern antworteten mit Lügen von Steaks, die weit über den Tellerrand ragen. Und die Geschichte vom Hunger. (Valentia Island, Irland 1978)
Zuletzt erschien von Gerald Jatzek: Kuno, das Schulgespenst. Neufassung. Obelisk, Innsbruck 2019. 64 Seiten. Euro 5,50