Monika Vasik über Elfriede Gerstl
balance – balance1 dieses sitzen in der sonne von rom ist keine lösung für dieses und jenes in wien und in meinem kopf dieses sitzen auf stufen weit weg von wien und allem im kampf mit lästigen papierlüsternen ameisen hält mich in schwebe über gar nicht unwahrscheinlichen abstürzen wie die aua- und die alitalia-vögel über den so genannten wirklichen abgründen von denen man wegschaut auf kleine käfrige buchstaben oder sonst was
Das Gedicht ist, von Elfriede Gerstl gelesen, auf www.lyrikline.org zu hören, der Webseite des Berliner Hauses für Poesie. Es tippt einiges an, was meiner Meinung nach typisch für Gerstl ist. Da ist der Vers „hält mich in schwebe“, der nicht bloße Phrase war, sondern eine existentielle Notwendigkeit ansprach, ihr fragiles In-Schwebe-Halten, das Kraft kostete, aber die Dichterin vor dem Absturz in die Bodenlosigkeit der „so genannten wirklichen abgründe“ bewahrte. Da ist das Schreiben und ihr Lebensort Wien, im Eigentlichen die Innere Stadt, durch die sie flanierte, in deren Cafés sie lebte. Da ist das Wiener Idiom ihrer Gedichte, hier nur beim Wie ihres Lesens zu vernehmen, und die französische Aussprache des Titels, was an die Bedeutung des Französischen, von Lehnworten und deren Verballhornungen im Wienerischen erinnert. Da ist Gerstls ambivalentes Verhältnis zum Reisen, insbesondere ihre Abneigung gegen das Fliegen, während sie einige Jahre gern mit dem „langsamen bahnwurm“, in dem viele Texte beim Pendeln zwischen Berlin und Wien entstanden und wo sie „am ruhigsten und am meisten bei mir“ war. Und da ist die von ihr empfundene Feindseligkeit der Natur in Form „papierlüsterner ameisen“, die nicht nur über das von der Dichterin beschriebene Papier sausen, sondern, so ahnt man, es gleich zerstören werden.
Im Gedicht mit dem Titel natur – nein danke2 wird ihre Skepsis gegenüber der Natur und deren Romantisierung expliziter:
von zeit zu zeit seh ich sie gern die vergifteten bäume die befallenen wiesen diese verlauste landschaft aus dem zugfenster meines abteils wo ich mich gerüstet fühle mit tinkturen und tabletten und anderer munition gegen die bissigen bakterien die killerviren das riesige feindliche heer an mir und in mir soll ich vielleicht hinaustreten ins verseuchte grün wo neue feinde warten nein danke sage ich zu meinen freunden den berg- und talsteigern ich habe hier drinnen schon genug natur
Gerstl hat ihr Distanzverhältnis zur Natur, die sie „als nichts Harmonisches, sondern als etwas Brutales“ empfand, immer wieder thematisiert, auch von ihr bevorzugte Ersatznaturen. In einem H. C. Artmann gewidmeten Gedicht deklarierte die Dichterin ihr Naturverständnis bereits im Titel: „meine sprache ist mir wald genug“. Und in ihrem letzten Band mein papierener garten. Gedichte und Denkkrümel (Droschl 2006) schreibt sie, datiert mit 2.2.2005, über ihren „verwilderten garten“, in dem „kräuter und rüben“ zu finden sind, und die Marotten der Bücherfrau prächtig gedeihen:
in meinem papierenen garten der in meiner wohnung wächst pflücke ich nach laune sätze von wittgenstein oder geniesse gedichtzeilen von artmann
Elfriede Gerstl wurde am 16. Juni 1932 in Wien geboren und würde demnächst 90 Jahre alt werden. Sie starb am 9. April 2009 in Wien. „mit 19 jahren schreibe ich meine ersten gedichte“, gab die Schriftstellerin Auskunft in Bio2 oder was sonst noch los war. Sie war beeinflusst u. a. durch die Lektüre Wittgensteins und Kafkas, Bourdieus und Jelineks sowie Begegnungen mit Mitgliedern der Wiener Gruppe. Erste Texte veröffentlichte sie 1955 in der Zeitschrift Neue Wege und machte sich bald zur Meisterin der kleinen Form. Heimito von Doderer lobte ihren 1962 erschienenen schmalen Erstling Gesellschaftsspiele mit mir. Wenig übliche Gedichte und Geschichten, der sprachlich „von höchster Perfektion“ sei.
Gerstl veröffentlichte Gedichte, Hörspiele, Essays, kurze Prosatexte und ein Jugendbuch. Konsequent verweigerte sie die Festlegung auf Gattungsbezeichnungen, nahm oft unterschiedliche Textsorten in ihre Bücher auf. Die einzige längere Prosaarbeit trägt den Titel Spielräume und wurde von Andreas Okopenko als „einer der wenigen politischen Romane unserer österreichischen Nachkriegszeit“ gewürdigt. In diesem Montageroman hat Gerstl Gedankensplitter, tagebuchartige Notizen und Experimentelles verwoben. Ich greife eine aphoristische Zuspitzung heraus, die ein Zitat Ludwig Wittgensteins paraphrasiert und von Gerstl auf eine ihrer Geschenk-Postkarten gedruckt wurde:
alles was man sagen kann kann man auch beiläufig sagen
Meine erste Begegnung mit der Dichterin datiert etwa ins Jahr 1980, als ich begann, Lesungen im fünf Jahre zuvor gegründeten Literarischen Quartier der Alten Schmiede zu besuchen. Klein, zart und quirlig war sie, eine attraktive Frau mit Stil, die Aufmerksamkeit auf sich zog und sich scheinbar ganz selbstverständlich in der Welt der männlich geprägten Literatur bewegte. Sie hätte meine Mutter sein können, ich bin im selben Jahr geboren wie ihre Tochter Judith. Was mich an Gerstl erstaunte, war ihre Präsenz und ihr unorthodoxer Feminismus, der mir beispielhaft zeigte, dass und wie es konkret gelingen kann, aus rigiden Rollenzuschreibungen auszubrechen. Es beeindruckte mich, die Essays der Zeitzeugin zu lesen, etwa jene zum Kulturbetrieb, zu Autor*innen wie Hertha Kräftner, Konrad Bayer oder H. C. Artmann, ihre Texte über Mode und Moden oder zu gesellschaftspolitischen Fragen. Was mich an der Dichterin faszinierte, war u. a. die manchmal geradezu schmerzliche Präzision und vordergründige Einfachheit ihrer Texte, die existentielle Abgründe offenbarten. Gerstls Gedichte atmen Melancholie, sind dennoch voll lakonischem Witz und behutsamer Ironie. Sie nannte es ihre „ironische Grundhaltung“, mit der sie versuche, „eine unerträgliche oder unangenehme Situation zu distanzieren“, damit Larmoyanz und Pathos gar nicht erst aufkommen. 2002 präzisierte sie in einem Gespräch mit Konstanze Fliedl:
„Es geht darum, Distanz zu gewinnen, sich nicht dermaßen schwierig und ernst zu nehmen, sondern sich auch ironisch anzusehen und die eigenen Marotten wie von außen zu betrachten.“
Was mir als Wienerin überdies gefiel, war der wienerische Klang, Gerstls Mischung aus deutscher Hochsprache und wienerischen Ausdrücken und Sprachelementen, sowie das Wiener Lokalkolorit.
Als prägend für Gerstls Schreiben und ihren Zugang zur Welt greife ich drei Themen heraus, die eng miteinander verwoben sind:
1) Das Überleben des NS-Terrors als jüdisches Kind in Verstecken in Wien gemeinsam mit ihrer Mutter
Gerstl wurde in einen gutbürgerlichen Haushalt geboren. Als die Eltern der Fünfjährigen sich trennten, war es „ein großer Schreck, daß mein Vater plötzlich weg war.“ Er zog nach Amerika, während das Mädchen in beengten Verhältnissen mit Mutter, Tante und Großmutter in Wien lebte. Die zeitgerechte Flucht vor den Nationalsozialisten wurde „aus Unentschlossenheit“ versäumt, wie Gerstl in Das kleine Mädchen, das ich war urteilte. In Vom Frausein und anderen Fatalitäten lesen wir:
„An irgendeinem Tag des Jahres 1938 war ich plötzlich nicht nur ein kleines Mädchen, sondern ein jüdisches kleines Mädchen und damit auf rätselhafte Weise schuldig gesprochen“
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurden die Frauen in eine kleine Wohnung im zweiten Bezirk, Rembrandtstraße 28, zwangsumgesiedelt. Gerstls Mutter gelang es, die drohende Deportation mehrfach zu verzögern. Schließlich tauchte sie mit ihrer Tochter unter. Die beiden überlebten 1942-1945 in wechselnden Verstecken in Wien.
Es lässt sich für Nachgeborene kaum ermessen, was es für ein Kind bedeutet, jahrelang isoliert zu sein, keine Schule besuchen, nie mit anderen spielen, sich nie austoben zu dürfen. Drei lange Jahre verbrachte sie mit ihrer Mutter in verdunkelten Räumen, zur Untätigkeit verdammt, weil sie keinen Lärm machen durfte, um den Unterschlupf unbewohnt erscheinen zu lassen. Meist lag sie lautlos im Bett, rettete sich in Tagträume. „Manchmal fielen mittags durch die Risse der Rouleaux verirrte Lichtstrahlen“, erzählte sie in Lebenslauf, doch meist war es fürs Lesen zu dunkel.
Elfriede Gerstl hat nach dem Kriegsende über die Widerfahrungen geschrieben, etwa im 1955 in Neue Wege veröffentlichten Text Mein Lichtstrahl oder im 1958 ebenda publizierten Sonett Portrait vom: »Kind unserer Zeit«. Danach hat sie sich anderen Themen zugewandt, erst viel später wieder über jene Jahre und ihre Ängste Texte verfasst, etwa das 1998-99 entstandene Gedicht Kindheit, auch von alltäglichen Problemen erzählt, etwa dass sie kaum je passende Kleidung hatte, selten Schuhe, die groß genug waren, weil sie zu schnell aus allem herauswuchs. In einer Rede, abgedruckt 2001 in Illustrierte Neue Welt, erinnerte Elfriede Gerstl anlässlich der Enthüllung einer Gedenktafel zu Ehren der Gerechten unter den Völkern auf dem Wiener Judenplatz an die Leistung jener einfachen Menschen, durch deren Hilfe sie überlebt hatte.
Nach Kriegsende war es herausfordernd, sich an ein Leben in Freiheit zu gewöhnen, erste Schritte allein auf der Straße zu wagen, Kontakt mit Menschen nicht nur zu fürchten oder sich ein Gespräch zuzutrauen. 1992 resümierte Gerstl: „Dieses Leben im Verborgenen hat schon sehr entscheidend auf mein späteres Leben gewirkt.“ Doch sie lehnte es entschieden ab, künstlerisch auf „diese ruinierte Kindheit“ reduziert zu werden, beharrte: „Ich möchte Echo für meine Literatur, nicht für mein Schicksal“. In einem Interview mit Konstanze Fliedl resümierte sie:
„Ich habe immer versucht, nicht verbittert zu sein und mir nicht auf Grund schlimmer Erlebnisse und Erfahrungen meine Gegenwart vergiften zu lassen.“
Eine Nachwirkung jener Zeit des Mangels war ihre Unfähigkeit zu wohnen, da sie das Wohnen, wie sie in ihrem Essay „Individuelles Wohnen“ ausführte, nie gelernt hatte.
„In der Nazi-Zeit waren mir fremde Wohnungen Versteck, Zuflucht und Gefängnis. Und auch später habe ich lange Jahre meines Lebens nur Zwangs- und Notgemeinschaften kennengelernt.“
Noch jahrelang lebte sie bei ihrer Mutter, später auch mit Mann und Tochter in der einst von den Nazis zugewiesenen Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung, weil es der jungen Familie nicht gelang, eine Gemeindewohnung zu bekommen. Gerstl floh aus ihrer ausweglosen Situation schließlich mit einem Stipendium nach Berlin, lebte in wechselnden Untermietzimmern, weshalb sie ihre Zeit lieber in Cafés verbrachte, auch nach ihrer endgültigen Rückkehr nach Wien, bis sie 1979 in eine eigene Wohnung im geliebten ersten Bezirk, Kleeblattgasse 9 übersiedelte, wo sie bis zu ihrem Tod lebte.
„Ich … benütze eine Wohnung ja anstatt zum Wohlfühlen zum Vollfüllen: mit den lieben Kleiderchen, Hüten, Zeitschriften …“, konstatierte sie. Denn eine Nachwirkung der „Zeiten tiefster Armut“ war ihre Sammel- und Tandelleidenschaft, „das Leutesammeln“ und das Sammeln alter Kleidungsstücke. Oder wie Gerstl in ihrem Zyklus Kleiderflug oder lost clothes erklärte:
literatur und sammeln entspringt einem mangel irgendeinem mangel trotzig die fülle entgegensetzen
Vor allem Vintage-Kleidung, die sie „billig am Flohmarkt oder bei Tandlern“ erwerben konnte, und anderer „Zwanziger- bis Sechziger Jahre-Trödel“ hatten es ihr angetan. Gern kleidete sie sich in einer „Mischung aus alten Kleidern der verschiedensten Epochen“, liebte Hüte. Ihre Sammlungen wuchsen so, wie ein Text wuchs, „planvoll und chaotisch“, immer beides zugleich.
2) Ihre Position als weibliche Intellektuelle im männerzentrierten Literaturbetrieb
Gerstl wollte Tänzerin, Trapezkünstlerin oder Kinderärztin werden. Ihr drängendster Wunsch jedoch war, „[n]icht zu werden wie meine Mutter … nicht von einem launischen Ehemann Geld zu brauchen“. Sie registrierte deren ungewöhnliche Aufmüpfigkeit, da sie Hausarbeit verweigerte, und bewunderte deren Fähigkeit, Geschichten zu erfinden. Aber werden wie sie – nie! Gerstl rutschte durch Beobachtungen, misogyne Erfahrungen und dadurch entfachten Ärger in ihre feministische Haltung hinein. In einem Interview mit Konstanze Fliedl und Christa Gürtler erklärte sie:
„Ich hab Frauenthemen erörtert, also die Befindlichkeit von Frauen zum Beispiel in den Spielräumen zu einer Zeit, in der ich das Wort Feminismus noch gar nicht gekannt habe. Ich bin dann erst später draufgekommen, daß ich feministisch argumentiere.“
Erst in den frühen 1970ern, nachdem sie „die Greer und die Millett“ gelesen hatte, kannte sie den Namen für ihre „früher unettiketierte Ärgerlichkeit über ungleiche, ungerechte Zurücksetzung … ich war also eine Feministin“. Nicht nur Gerstls Montageroman spricht Klartext. Die Schriftstellerin verfasste Gedichte und Essays, die keinen Zweifel an ihrer Haltung aufkommen ließen, z. B. im lichte des feminismus oder aktueller geschlechterkampf. Es sind Texte, die sich, gelegentlich augenzwinkernd, auch spöttisch, mit Geschlechterasymmetrien, der Geringschätzung und Verachtung von Frauen auseinandersetzen, etwa in Frauen(arbeit) = Dreck(arbeit) oder in Über die Infantilisierung der Frau als Patientin. Sie setzte sich zudem mit dem „Schlachtfeld vielfältiger verschönender Strategien“ auseinander sowie der Benutzung von „frauenfleisch“ für Marketingzwecke. Diese Texte entdeckte ich vor Jahren in Unter einem Hut, erschienen 1993 (Edition Falter/Deuticke). Es war mein erstes eigenes Gerstl-Buch. Frühere Werke hatte ich, die Verhältnisse ließen nichts anderes zu, bloß geliehen.
Unter einem Hut war in zweifachem Sinn zu verstehen. Hier publizierte eine Frau, die nie einen „breitspurigen roman“ vorlegen wollte, sondern unter einen Hut packte, was ihr zusammenpassend schien, Essays und Gedichte, die sich thematisch ergänzten, mit der Situation von Frauen und dem österreichischen Kulturbetrieb befassten sowie mit Dichter*innen und deren Texten, etwa dem Frauenlob bei Artmann und im Schlagertext.
Unter einem Hut zeigte noch eine weitere Besonderheit, nämlich eine eigentlich scheue Elfriede Gerstl, die sich selbstbestimmt inszenierte. Zwei Fotos zieren das Cover, beide schwarzweiß mit gezacktem Rand, wie in den 50er, 60er Jahren üblich. Gerstl steht allein auf dem Kopfsteinpflaster einer schmalen Straße. Sie trägt dunkle Hose, Schuhe, Schal, Übergangsmantel, eine Tasche an der linken Schulter. Auf der Vorderseite des Buchs kehrt sie uns den Rücken zu. Vom etwas unscharfen Bild auf der Rückseite blickt sie uns direkt an, die Hände in den Mantelsäcken vergraben. Ein angedeutetes Lächeln umspielt ihre Lippen. Da steht sie, eine Frau, die beharrlich ihre Eigenständigkeit zeigt, beiläufig auch ihre Einsamkeit. Auf dem Kopf trägt sie einen Herrenhut. Als Anmaßung empfanden das manche Männer und einer empörte sich: Daß’ Ihnen net schämen!
3) Ihr Interesse am Fragmentarischen, an Sprach- und Formexperimenten
Elfriede Gerstl kannte niemanden, dem sie ihre Texte zeigen konnte, bis sie sich Hermann Hakels „Arbeitsgruppe für junge Autoren“ anschloss. Hakel war autoritär, gefiel sich, wie Gerstl in ihrem Essay Boheme ausführte, „in einem alttestamentarischen Propheten- und Geniegestus – gerne ließ er sich »Meister« nennen.“
„Erfolglosen Frauen und jungen Elevinnen tätschelte Hakel die Wange, nannte sie »Kinderl« und behandelte sie mit freundlicher Herablassung, erfolgreichen Frauen unterstellte er krankhaften Ehrgeiz und daß sie sich den Lektoren an den Hals geworfen hätten.“
Es war ein typisches Verhalten sich bedeutend dünkender Männer dieser Zeit, ähnlich wie in der zweiten vaterzentrierten Literatengruppe Wiens um Hans Weigel. Gerstl ärgerte sich über Hakels Verhalten, aber sein Kreis war eine Möglichkeit, sich literarisch auszutauschen und Kollegen kennenzulernen, durch die sich erste Veröffentlichungen und Lesungen ergaben. Später traf sie auf Andreas Okopenko, mit dem sie eine lebenslange Freundschaft verband, Mayröcker, Jandl und die literarische Avantgarde der Wiener Gruppe. Bei den Gruppentreffen nahm sie „meine Rolle als geduldeter Gast im Café“ an, übte sich „im stummen Dabeisitzen, was keinem auffiel, weil ja fast alle Frauen stumm dabeisaßen“. Rege Diskussionen und ihre Beschäftigung mit Oswald Wieners die verbesserung von mitteleuropa, Konrad Bayers der sechste sinn oder Texten H. C. Artmanns beeinflussten die Entwicklung ihres bis dahin traditionellen Schreibstils hin zu eigenen experimentellen Verfahren wesentlich.
„Das waren wirkliche Initialzündungen, die ein anderes Verständnis von Literatur und Umgang mit Sprache erzeugt haben.“
Gerstl wollte sich nicht mehr „von einer Konstruktion beengen lassen“. Nicht das Stricken eines realistischen Romans interessierte sie, sondern ein „filmschnittartiges und ein flächiges Schreiben“, ein Fragmentieren, das Zusammenfügen von Gedanken, Traumschnipseln, von Zitatsplittern und verwandelten Floskeln, „ein zeitgenössisches vokabular“. Früh habe sie gemerkt, dass sie etwas Größeres nur aus kleinen Zellen zusammenbauen könne. Auch sei „die Fähigkeit des ungeordneten Denkens“ ein wichtiges Produktionsmittel für Lyriker*innen. Im Interview mit Hubert Fichte sprach Gerstl 1979 zudem ihre Sprachskepsis an, die „Zweifel an der Sagbarkeit des zu Sagenden, Zweifel daran, ob Sprache überhaupt das abbildet, was sie abbilden soll.“ Dass die Entwicklung hin zu einem anderen, experimentelleren Schreiben folgerichtig war, erklärte Heimrad Bäcker in seinem Nachwort zu den Spielräumen so:
„Hier spricht eine Autorin, die als Kind im Dritten Reich tief verstört wurde, die nicht leben sollte, und die nun nur die Sprache hat, um die Bruchstücke ihres Daseins zusammenzufügen.“
In was mir bei manchen gedichten abgeht nannte Gerstl eine weitere Grundlage ihres poetischen Schaffens:
gedichte brauchen eine prise surrealismus – was verschobenes verschrobenes – einen stich ins spinnerte
Dass gerade dieses Interesse am Spinnerten sie zur Außenseiterin machte, gegen gängigen Kunstgeschmack und Kunstverständnis stand und ihr den Zugang zu öffentlichen Geldtöpfen erschwerte, sprach sie etwa in den Spielräumen an:
einer, der Papier redet einer, der Oden atmet einer, der Aphorismen pisst einer, der Konvolute scheisst einer, der von der Handlung in den Mund lebt einer, der vom Volksmund Abgeschautes verbrät einer, der sich nicht den Mund verbrennt sondern seinen Nabel beschaut einer, der seiner ganzen Innerlichkeit vertraut jawohl, so was muss man auf Lager haben im Kramladen der Kulturbeamten …
In notizen geht sie noch einen Schritt weiter und endet mit einer der typischen Gerstl’schen Pointen:
nur wer die unattraktivität des fragmentarischen wählt scheint mir noch glaubwürdig – man muss alles tun um sich die marktchancen zu vermasseln
Gerstls Dichtkunst stieß in großen Verlagshäusern auf Ablehnung, weshalb sie nur in kleinen Verlagen publizieren konnte. Immer wieder nahm sie Texte aus bereits vergriffenen Büchern in neue Veröffentlichungen auf, veränderte sie gelegentlich, weshalb mehrere Varianten existieren, etwa ihres Gedichts Ophelia oder des eingangs zitierten natur – nein danke. Auch Preise bekam Gerstl spät, etwa 1999 den Erich-Fried- und den Georg-Trakl-Preis, 2007 den Heimrad-Bäcker-Preis. In ihrer Dankesrede zu letzterem erinnerte sie daran,
„dass der wunderbare, sensible autor und kompetente verleger heimrad bäcker, als er meinen vielerorts abgelehnten montageroman „spielräume“ 1977 zu drucken sich entschieden hatte, mich aus tiefster depression und hoffnungslosigkeit gerettet hat.“
Schon 1985 hatte sie bei der Verleihung des Österreichischen Würdigungspreises für Literatur kämpferisch betont, „Ich lasse mir meine Zuversicht nicht wegraunen“. Beharrlich und konsequent entwickelte sie ihre Sprache, richtete sich in ihr ein, wohnte darin, wie sie in einem Gedicht schrieb, und wenig fehlte ihr, solange sie in ihrem „zusammengeschusterten sprachhäusl“ blieb, flanierend zwischen Worten, Versen und Sätzen.
Über die Tatsache, dass ihr „nach jahrzehntelanger armut und nichtbeachtung“ erst in fortgeschrittenem Alter Preise und Anerkennungen zuteilwurden, hat Gerstl sich mehrfach geäußert. So erinnerte sie in später erfolg – ein tagebuchausbruch, dass nicht nur für zwei befreundete Künstlerinnen die Anerkennung im Kunstbetrieb zu spät kam, sondern auch Schriftsteller wie Gerald Bisinger, mit dem Gerstl von 1960 bis 1968 verheiratet war, oder Walter Buchebner öffentliche Zeichen der Wertschätzung nicht mehr erlebten. tot müsste man sein, dichtete sie sarkastisch,
alser toter hat mancher mehr zulauf als jemals bei seinen lesungen oder vernissagen
Wie sie zu ihrem 75. Geburtstag öffentlich „geradezu gehypt“ wurde, nahm sie mit abgeklärter Ironie zur Kenntnis. Sie belächelte, dass sie „als figur mit hut in den stadtcafés … neuerdings sogar für die printmedien zu brauchen gewesen“ sei und resümierte:
„das heisst gar nicht, verbittert zu sein, versüssen kann einem aber später erfolg nichts, auch nicht die bitteren jahre der armut und vorenthaltenen beachtung.“
Wichtiger sei für sie ohnehin, so die Dichterin 1999 bei der Verleihung des Erich Fried-Preises, um sich verständnisvolle, solidarische Freunde zu haben und „von den Menschen, die ich schätze, ebenfalls geschätzt zu werden“. Dies wäre Grund genug, auch mal zufrieden zu sein. Oder wie es mantraartig in ihrem mit Juli 2003 datierten Gedicht selbsttherapie heißt:
ich bin zu alt was schlechtes zu essen ich bin zu alt grauslichen wein zu trinken ich bin zu alt was blödes zu lesen ich bin zu alt unangenehme menschen zu treffen ich bin zu alt mich kränken zu lassen ich bin zu alt um noch pessimistisch zu sein ich bin zu alt mit meinem leben unzufrieden zu sein das verlässliche versprechen aus wirds sein als was tröstliches weg mit dem mistkübel der negativen emotionen nur mehr heranlassen was den tag aufhellt
Elfriede Gerstl hat in ihren Texten wiederholt das eigene Schreiben und den Schreibprozess thematisiert, manche Zugänge und Einflüsse dargelegt, poetologische Einblicke gewährt und voll Lakonie ihre Position im Literaturbetrieb beleuchtet. Über das Verfassen von poetischen Texten notierte sie einmal: „Gedichte dürfen ruhig auch gescheit sein – sie sollen aber auch einen duft transportieren – nach narzissen oder auch camembert – und eine bewegung imitieren – mal wie ein schaukelstuhl – mal wie ein schwalbenflug.“ Beispielhaft schließe ich mit zwei Gedichten:
vom gebrauch der gedichtzeilen sich in eine zeile lehnen wie in eine sofaecke in einer zeile reiten mit fliegenden haaren mit einer wegschweben wie ein luftballon eine wandert mit schweren schuhen auf einer holzdiele wander mit eine breitet die flügel aus und flattert herum wie ein eben flügge gewordener vogel folge wenn du kannst eine zieht raketengleich fort auf nimmerwiedersehen.
Das letzte Gedicht willkommene kopfgäste spielt auf Intertextualität, Zitat und Montage an:
gedichtzeilen wandern durch meinen kopf sie sind von dir von mir oder von längst verstorbenen wir schaufeln ein grab in den lüften da liegt man nicht eng ich bin der wald der schnee bin ich der fällt ich hab mir diese zeit nicht ausgesucht sie reden zu mir begleiten mich sind meine verlässlichsten freunde dass einige zeilen wohnung nehmen in verwandten köpfen mehr gibt es nicht zu wünschen
Mögen ihre Werke3 von vielen gelesen werden, der eine oder andere ihrer Verse Platz in den Gedichtwohnungen nachfolgender Dichterinnen und Dichter finden!
1 Den Anstoß zu meiner neuerlichen Beschäftigung mit dem Kosmos Elfriede Gerstl gab das zweisprachige Buch balance balance, das mir Herbert J. Wimmer, Gerstls Lebensfreund von 1973 bis zu ihrem Tod, schenkte. Es enthält Gedichte beider Lyriker*innen, ins Spanische übersetzt von Olga Sánchez Guevara (edition art science 2020); siehe auch www.poesiegalerie.at/wordpress/2021/09/10/kommt-eine-zeile-geflogen/ Der vorliegende Text ist keine literaturwissenschaftliche Abhandlung, sondern Ergebnis meiner Auseinandersetzung mit der von mir geschätzten Schriftstellerin Elfriede Gerstl und Aspekten ihres Werks. Als Material dienten Gerstls Texte, private Aufzeichnungen, entstanden während und nach Lesungen oder im Rahmen meiner Lektüren, Recherchen im Internet und in Büchern.
2 Zehn Gedichte kann man, von Elfriede Gerstl gelesen, auf der Lyrikplattform www.lyrikline.org nachhören, darunter folgende, die im Beitrag erwähnt werden:
www.lyrikline.org/de/gedichte/balance-balance-1520
www.lyrikline.org/de/gedichte/natur-nein-danke-1518
www.lyrikline.org/de/gedichte/vom-gebrauch-der-gedichtzeilen-1522
3 Elfriede Gerstls Werke liegen im Droschl Verlag vor. Empfehlenswert ist die fünfbändige Werkausgabe (www.droschl.com/buecher/werkausgaben/elfriede-gerstl/, die alle zu Lebzeiten erschienen Titel vereint, ergänzt durch Texte aus dem Nachlass, Interviews mit Gerstl sowie Beiträge von Kolleg*innen zu und über Gerstl, u. a. von Andreas Okopenko, Heimrad Bäcker und Elfriede Jelinek. Auseinandersetzungen mit Aspekten von Gerstls Werk finden sich im 2002 bei Droschl erschienenen Dossier 18, Hg. Konstanze Fliedl und Christa Gürtler www.droschl.com/buch/dossier-18-elfriede-gerstl/ Gerstls Werke können auch in den Büchereien der Stadt Wien, v. a. der Hauptbücherei, entliehen werden: https://buechereien.wien.gv.at/Mediensuche/Einfache-Suche?search=elfriede+gerstl&top=y