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Sehen mit der Sprache

Sehen mit der Sprache

Petra Ganglbauer über Heidi Pataki

Wenn Julian Schutting Heidi Pataki in seinem Vorwort zu AMOK UND KOMA dem 1999 im Otto Müller Verlag erschienenen Buch, als „Denkdichterin“ bezeichnet, dann umfasst dieses Wort trefflich das ganze Spektrum der literarischen Arbeit der 2006 verstorbenen Autorin. Sie war Essayistin, Journalistin, Dichterin, kulturpolitische Frontkämpferin und ein schillernder Mensch. Ihre Stimme galt stets denjenigen, deren Kraft nicht ausreichte, sich selbst entsprechend zu vertreten. Sie erhob sich gegen soziale Ungerechtigkeiten, Machtmissbrauch oder Manipulationsversuche.

Nach dem Studium der Publizistik und Kunstgeschichte war Heidi Pataki Redakteurin des legendären Neuen Forum, 1981 wechselte sie zur FilmSchrift. Sie schrieb für diverse Medien, auch in Deutschland, und war Mitarbeiterin der Zeitschrift Jüdisches Echo. Sie war 1971 Gründungsmitglied des Arbeitskreises österreichischer Literaturproduzenten und 1973 Gründungsmitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung, der sie als Präsidentin von 1991 bis 2006 vorstand. Zu ihren Veröffentlichungen zählen u.a.: Schlagzeilen, Suhrkamp 1968; Fluchtmodelle. Zur Emanzipation der Frau, Jugend und Volk 1972; stille post, edition neue texte 1978; Kurze Pause, herbstpresse 1993; guter ruf / die heilige familie, herbstpresse 1994; AMOK UND KOMA, Otto Müller Verlag 1999; contrapost. Über Sprache, Kunst und Eros, Otto Müller Verlag 2001.

Ich lernte Heidi Pataki Ende der 1980er Jahre kennen, als ich der Grazer Autorinnen Autorenversammlung beitrat. Sie setzte sich und ihre literarische Arbeit gezielt, lebhaft ein. Mit großer und temperamentvoller Geste. Die Art und Weise, wie sie beispielsweise ihre Gedichte vortrug, meist hinter einem Lesepult stehend, die Hände links und rechts darauf ruhend und zugleich mit den Worten ringend, dann wieder beinahe klagend, anklagend in der ihr eigenen Sprachmelodie, beeindruckte mich sehr. Vieles klang für mich schon damals wie eine Warnung, wie Voraussicht. Als ob die Dichterin etwas auszuloten imstande gewesen wäre, das wir, die wir zuhörten, erst viel später zu realisieren imstande waren. Heidi Pataki „sah“ mit ihrer Sprache. Sie sah und sie sah voraus. Zudem machte sie ihre Gefühlswelt ohne Umschweife transparent, wobei sie auch nicht mit Kritik oder Zynismus hintanhielt, wenn es um authentische Äußerungen zu Missständen ging. Heidi Pataki war ein intensiver Mensch, ausgestattet mit einem oszillierenden, vielschichtigen Sensorium für das Elementare, für Recht und Unrecht, für Diskriminierung oder für faschistoide Tendenzen. Und sie hatte ein großes Herz.

Ihr expliziter kulturpolitischer Einsatz lässt aber auch vermuten, dass sie jenes Schicksal traf, welches vorzugsweise all jene AutorInnen heimsucht, die sich augenscheinlich exponieren oder positionieren, die ihre Stimme lautstark erheben: Viele unter ihnen haben das Problem, zwar als Agierende aber nicht als AutorInnen, DichterInnen entsprechend wahrgenommen oder gar gefördert zu werden.

Was darüber hinaus – auch anhand des Werkes Heidi Patakis – evident ist, ist die Flüchtigkeit dichterischer Arbeit, auch wenn sie qualitativ noch so nachhaltig ist. Zu sehr ist diese oft an die Person gebunden, erhält keine Chance ein Eigenes, Zeitloses zu werden, um auch noch Jahre, Jahrzehnte nach dem Ableben ihrer UrheberInnen zu überdauern. Nicht allzu viele Literaturinteressierte, außer jene, die sich zeitlebens im Umfeld der Dichterin bewegten, erinnern sich noch nachdrücklich ihres Werks. Anlässlich des von Augusta Laar organisierten Schamrock Salon der Dichterinnen #26 im Literaturhaus Wien, stellte ich Bücher von Heidi Pataki vor. Nach der Lesung suchten einige BesucherInnen den Kontakt mit mir, um mir zu signalisieren, wie stark sie die Texte der verstorbenen Autorin finden.  Es gilt, die Dichterin neu zu entdecken, und dies nicht erst in 100 Jahren. Ihr Werk ist ebenso zeitlos wie vorausweisend.

Heidi Patakis Gedichte verdeutlichen politische, gesellschaftliche, soziale oder historische Einflüsse. Doch auch die Sprache selbst ist es, die vielgestaltig, grell, expressiv und zeitgleich zerrüttet, bang oder ironisch agiert. Sprache als Agens. Lyrik hat enorme Sprengkraft – und es gibt viele formale und inhaltliche Zugänge, um diese zu entbinden. Ungeachtet des jeweils spezifischen Wahrnehmungsfilters der LeserInnen treffen Patakis aufrührende, hochdosierte Gedichte mitten ins Schwarze. Denn der Abgrund, die Dunkelheit, das Uneinsichtige, Unbewusste schwingt stets mit. Diese Gedichte sind daher auch aufmüpfige, explosive, vielgestaltige, widerspenstige Gebilde.

Es kommt nicht nur zu einem Verschmelzungsprozess der Dinge, Wesen, Worte, der Sprachsubstanz, wenn wir uns mit Gedichten auseinandersetzen, wir gehen überdies in Resonanz mit ihnen und agieren wie Echoräume. Dergestalt setzt Lyrik in uns jeweils etwas Anderes frei, etwas, das, abgesehen von generellen Wahrnehmungsüberschneidungen, sehr persönlich und höchst individuell zutage tritt. Dieser subjektive Zugang gilt freilich auch für die Auswahl jener Werke, deren Sprengkraft man ausloten und genauer betrachten möchte und dies vor allem aufgrund ihrer Nachhaltigkeit.

Heidi Patakis Sprache, die eine ursächlich lyrische ist, schöpft aus dem Fundus der Onomatopoesie, des Rhythmus, der Metrik und deckt auf, holt Mechanismen aus dem Dunkel an die Oberfläche und schaufelt sich gleichzeitig von deren bindender Energie frei. Dies alles basiert auf einer sehr realen Wirklichkeitserfahrung: Heidi Pataki engagierte sich, wie bereits erwähnt, zeitlebens kulturpolitisch, sei es im Zuge ihrer journalistischen Tätigkeit als Mitarbeiterin der Zeitschrift Jüdisches Echo, als Gründungsmitglied des Arbeitskreises österreichischer Literaturproduzenten oder, wie erwähnt, als Präsidentin der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.


Ihre Lyrik wiederum fokussiert gleichsam ritualisierend jene essenziellen menschlichen Bereiche, denen man sich als Individuum nicht zu entziehen vermag; mehr noch, deren gesellschaftlichen Auswüchse und verheerenden politischen Abweichungen einer Heimsuchung gleichkommen. Pataki scheute nicht davor zurück, sich diesen Mechanismen zu stellen, indem sie sie aufzeigte oder überhöhte.

Zugeständnisse, Konventionen, Schablonen
doch leichen treiben an die oberfläche: 
es sind die alten steirerhüte noch 
beinah die gleichen funktionäre noch 
ein rückgrat ohne knochen...

So heißt es in einem Gedicht in dem Band stille post.

Das Überkommene, scheinbar längst abgelegt, erwacht von neuem und treibt „schindluder“, wie man früher gesagt hätte und wie es in einem der Gedichte Patakis auch wortwörtlich heißt. Norm, Konformismus, Gleichschritt blühen und treiben ihr Unwesen. Heidi Pataki stellt in ihrem Werk die Wahrnehmungsübereinkünfte unaufhörlich in Frage, kratzt mit ihrem radikalen Duktus an Konventionen oder Traditionen, welche nicht selten ins rechtsgerichtete Denken abgleiten.

es waren zwei königskinder? 
es wollt ein jäger jagen? 
ewigklar und spiegelrein und eben?

Redewendungen, Werbesprüche oder Litaneien macht sich die Dichterin zunutze, stellt intertextuelle Bezüge her, dockt an Mystik und Märchen an, um jene Mechanismen zu überhöhen und ins grelle Licht zu rücken, die ganz selbstverständlich, subtil und unhinterfragt in den Hinterhöfen des Menschseins ihr Unwesen treiben.

anarchie ist die ordnung unseres lebens. sie ist die ordnung
des gedichts. sein material sind bruchstücke der volks-
lieder, klischees, marschgesänge und trivialitäten. die 
stimme des volks ist die stimme des gedichts. doch was 
jedermann glatt über die lippen bringt – hier wird es zer-
stückelt, verstümmelt, in fragmente zerschlagen. jeder vers
wird amputiert.

Soweit die Dichterin in ihrem Nachwort zu stille post. Und an anderer Stelle:

das seziermesser sind die fragen: fragend 
falle ich der stimme des volks ins wort.
Sprachverrohung, Verherrlichung

Wie eigendynamisch die Sprache in Heidi Patakis Gedichten agiert, macht beispielsweise das Gedicht „berufswahl“ transparent, das in Parallelismen angelegt ist und aus Komposita beziehungsweise Paragrammen gebaut ist: 

ein volkeinreicheinführer
ein molkenteichverrührer
ein strolchenseichberührer…
ein jodelscheichprobierer…
ein kotzmichankassiber…

Denn „die worte sind kaputt und ausgelaugt wie wir“, so in dem Gedicht „autodafé“, das auf sehr ansprechende Weise zeigt, wie verloren und flüchtig all jene Begriffe, Werte sind, denen man vertraut, auf die man gebaut hat:

kein strohhalm darf uns bleiben
kein begriff
denn hand ist nicht mehr hand
die form hat sich verändert

Die Regeln, auf die unsere Kultur baut, sind hohl geworden, abgeschmackt und unbrauchbar: 

der satzgegenstand stinkt aus dem maul
…die aussage ist unpäßlich
…2000 jahre christliches abendland

Es ist die Sprachreflexion, die Sprachkritik, bei der Pataki ansetzt, sie lässt keinen Stein auf dem anderen, wenn es vonnöten ist.

konfusion – das ist das stilprinzip des gedichts. …das unzerstörbare zu zerstören 
– das ist das paradoxe des gedichts.

schreibt die Dichterin in einem bibliophil aufbereiteten Typoskript der Reihe SCHRIFTSTELLER IN DER GALERIE NO 6, Leonberg. Sie legt es darauf an, die Lesenden hineinzuzwingen in den Schrecken der Bilder, in jenen der entseelten Sprache, der entseelten Welt. Sie trifft genau.

Immanenz des Vergänglichen

Heidi Patakis Augenmerk liegt auch auf der Erde, den verschiedenen Spezies, ob Mensch, Tier oder Pflanze; und dem, was ihnen angetan wird, was Wunden schlägt, was bluten macht, es liegt auf den jeweiligen Lebensbedingungen und Lebensgefahren:

was wunder, wenn der riß, der durch die erde geht
auch uns entzweit. und immer kommt gleich blut: 
beredte sprache vieler sprachen; oder blicke
wenn alle worte längst versagten.

heißt es in „teufelskreis“. Und immer ist es dieses Gewahrsein, dieses Bewusstsein von Sterblichkeit, von Endlichkeit, das in den Gedichten mitschwingt!

„wohin denn ich?“ und an anderer Stelle „wohin denn wir?“, schreibt Pataki in dem Gedicht mit dem Titel „verbannung“. Zertrümmert, zerfetzt, entseelt sind die Dinge, Residua der spätkapitalistischen Gesellschaft:

wenn sie bloß wären, was sie sind

Alleine in dieser einzigen Gedichtzeile manifestiert sich, verkörpert sich die ganze, umfassende Verletztheit allen Seins; sie mutet wie ein elegisches Seufzen, ein Vorgang des Trauerns ob der verlorenen „Einheit“ oder besser „Integriertheit“, ob des Verlusts der Interdependenz von Mensch und Natur, von Sprache und Sein an.

was wären alle sachen?
zerfetzte wirklichkeit, werkzeug der phantasie!

Was sich da weiter so anhäuft als Ableger der Zivilgesellschaft: Kleenextücher und Bibeln, als Torpedo aus Schlagzeilen über Kriege, über zwischenmenschliche Aggression im Privaten. Und immer ist es der zerstörerische menschliche Geist, sind es dessen Auswüchse in Form von Plattitüden, Manipulationsmechanismen, Konsumzwang oder Warenfetischismus, die Wirklichkeitsfetzen zurücklassen.
Dennoch äußert sich Pataki dergestalt, dass sie auf alles „private, emotionale, differenzierte“ verzichtet.

ich verzichte auch auf meine eigene meinung.
es bleibt: ein album, in dem schnappschüsse von jeder-
manns geisteszustand versammelt sind.

Die Dichterin filtert, was bereits vorhanden ist und inszeniert es so, dass essenzielle und existenzielle Mechanismen gesellschaftlichen Zusammenlebens zutage treten; und sie tun es bisweilen so exzessiv, dass es schmerzt. Kreuz und quer lässt sich „frohes schaffen“ lesen, polyphon oder monophon, in jedem Fall enthält es viele Klangfarben und reichlich Lesepfade, es zu durchwandern:

der dengler schlägt (why) (zackzack!) die sense klingt
tropf tropf tau (are) (!) das reh muß weinen
von jedem schlage wund (there) (auau!) und singt
die schwarze sau (tears) (!) frißt ihre kleinen … 
(in the land of plenty)
Warenfetischismus

Und immer ist es der Zusammenschnitt aus Insistieren und Wehklagen, aus Ins-Licht-Rücken, besser noch, Der-Dunkelheit-Entreißen, in Form von Überhöhungen – und einem Sarkasmus, den nur die Sprache selbst zustande bringt. Sie ist es letztlich, die, was an Einsicht verloren gegangen ist, fokussiert und unumgänglich macht.

okkasion
hast ein reh du (wenn schon denn schon!)
laß es nicht (weil´s was besondres ist!) 
bald wird die trompete (mach mal pause!)
dann muß es (ein kühler zug!)
kaum gedacht (es zahlt sich aus!) 
wird der lust ein end gemacht
(frische für den ganzen tag)

Die Dichterin macht transparent, dass das, was im Kleinen, hinter dem Ladentisch oder was im Kühlregal des Supermarkts lagert, auch global darniederliegt. Was im Mikro-Bereich implodiert, tut dies gleichermaßen im Makrobereich. Das eine lässt sich nicht vom anderen trennen. Die Welt der Waren spiegelt die Befindlichkeit des Planeten: Ausgebeutet, nahe am Verbrennen oder Erfrieren.

anarchie
so traurig glotzt der gegenstand
daß er ums haar die ladenkette sprengt
und immer haufen von der gleichen sorte …
in gondeln schwankt ein sonderangebot
zack fährt der blitz (des käufers hand ins erdregal
der einkaufswagen klirrt von eis … 
die bombe tickt im tiefkühlfach … 
die schachtelmauern stürzen ein…
entschuppte fische auf dem trockenen land.

Aber, wie bereits erwähnt, auch die Sprache strauchelt unter den Endzeitszenarien des Spätkapitalismus. Sie ist ebenso verbraucht, abgenützt, abgetakelt und abgestorben.

supermarkt
wer sagt denn, daß nicht auch gedichte
wie jedes leicht verderbliche produkt
ihr datum der verpackung auf dem deckel tragen.

Wenn wir uns mit einer Haltung den Gedichten nähern, wie sie die Warenwelt und Produktorientiertheit vorgeben, dann haben Gedichte, Texte ein Verfallsdatum. Was aber, wenn diese Gedichte zündeln, lodern, wie sie es im Fall der Texte Heidi Patakis tun? Und was, wenn wir, die Lesenden, uns entsprechend wach, im Vollbesitz unserer Sinneskräfte, auf sie einlassen? Wenn wir sie nicht abtun, vergessen? Dann, ja dann zündeln sie in uns und auch nach uns weiter; weil sie zeitlos und punktgenau sind, weil jeder überzeugende Text völlig unabhängig von der Zeit, in der er erscheint, aus seiner Ruhephase erwachen und spätere Generationen mitreißen kann.

Alltag & alles Andere

Auch auf das soziale Gefälle, die Unbehaustheit oder die kleinen, mithin aggressionsbeladenen Alltagsriten in den (Wiener) Hinterhöfen legt die Dichterin ihr Augenmerk:

wenn die raben krächzen, schlägt das wetter um… 
dann hören wir den nachbarn husten unter uns
durch dünne wände, und die luft so dünn von aspirin
& feucht, das gleich der brandung dich an unser ohr
schallwellen schlagen, schlagen wird gleich über uns
der nachbar seine frau…

Und in „hintertreffen“, der Titel ist symptomatisch, heißt es:

…fade mischt sich so in wiener hinterhöfen
das anale mit dem duft des abfalls.

Wieder schließt sich der Kreis der Sprache, die gleich einer Schablone, einer Endlosschleife in sich selbst durchhängt:

reverie
 
ô wienerblut ô alter hut
ô ämterfurcht ô denkmalflucht
…und auf die donau laß die hunde los.

Die konsequente Verschränkung aus politischer und poetischer Haltung ist jene Qualität dieser Dichtkunst, die mich in ihren Bann zieht. Sie lassen beide zudem etwas Drittes Unausgesprochenes, Ungeschriebenes zu. Entgrenzungen sind das, die die Vehemenz der lyrischen Positionierung Heidi Patakis erweitern – Schwellenerfahrungen –, die etwas offenlegen, etwas, das weitaus nachhaltiger ist als das geschriebene Wort.

Quellen:
Heidi Pataki: AMOK UND KOMA. Salzburg: Otto Müller 1999.
Heidi Pataki: stille post. Linz: edition neue texte 1978.
Heidi Pataki: Schlagzeilen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1968.
SCHRIFTSTELLER IN DER GALERIE N0 6. Typoskript. Leonberg 1982.

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