Johannes Tröndle liest WELCH von Seda Tunç
auf einmal taucht es auf aus der unschärfe des wassers der ersten sprache, die ich lernte das wort nichts
Mit diesen Versen endet das Gedicht hiçbir şey. Es ist das einzige, das einen türkischsprachigen Titel trägt, und hiçbir şey sind gleichzeitig auch die einzigen beiden Wörter im Gedichtband, die aus der ersten sprache der Dichterin stammen. Ins Deutsche übersetzt, wird aus den zwei Wörtern gar nur ein einziges: hiçbir şey bedeutet nichts.
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Es ist ein schmales, aber eindringliches lyrisches Debüt der seit über einem Jahrzehnt in Wien lebenden Dichterin. Himmel und Erde, Wüste und Meer; ein Schlachtkalb; ein Koralleneinbruch: archaische Bilder, die mit surrealen und ganz alltäglichen Szenen überblendet werden. Ein embryo an der decke taucht genauso auf wieder auf dem Herd überlaufende kaffee.
Die Gedichte kommen mit wenigen Worten aus – oder thematisieren das Wortlose:
es gibt eine baumblütenfarbe die hat kein wort an sich geklammert
heißt es in einem bezeichnenderweise nur mit zwei Klammern ( ) betitelten Gedicht.
Und:
an meine haut stoßen nachts worte die ich nicht sagen konnte
Vielleicht stammt diese baumblütenfarbe aus dem Garten der Kindheit, über dem ein kindheitsschatten liegt. Der Baum mit riesigen blättern verspricht Schutz vor der Hitze und die bettwäschemeinergroßmutter sorgt für Geborgenheit – aber es gibt auch bombenkrater, ausgangssperren, und die blumen am balkon sind zartlila verwundet. Dersim, Mardin ist ein Gedicht betitelt: zwei geographische Bezeichnungen, eine Stadt an der syrischen Grenze und eine Region im Nordosten der Türkei – respektive der kurdische Name dieser Region, die in den 1930er Jahren Schauplatz eines äußerst blutig niedergeschlagenen Kurdenaufstands war.
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So der Beginn eines von Leerzeilen durchschossenen Gedichts, das endet mit:
zweifacher beweis eines risses der flügel dieses papiers
In einem anderen Gedicht ist von den löchern des traums die Rede. Es gibt diese risse und löcher auch in den Gedichten selbst – in der Form dieser Gedichte. Obwohl im Kern narrativ, fügen sie sich nie bruchlos zu einer Erzählung – und sie entwerfen dabei en passant eine poetische Sprache des Widerstands.
die fenster geöffnet, erzählen wir alles, was zum erzählen gehört
heißt es im Gedicht mit warmgelben glühbirnen (das mit einem Eingangszitat von Anne Carson versehen ist), und weiter:
wenn es sprachstill wird bewegt sich ein samurai unser verrücktwerden unser schwingen aus worten aus wind
Seda Tunç: WELCH. Gedichte. edition mosaik, Salzburg 2021. 60 Seiten. Euro 10,-